Menschen │ Arbeit │ Landschaft
Klaus A.E. Weber
Die Landschaft prägte die Arbeit der Menschen.
Die Menschen formten die Landschaft.
In Heinade um 1985
Foto: Wilhelm Landzettel [2]
"Armer Leute schlichtes und rechtes Denken und Handeln nachzulesen,
ist unseren hastenden Menschen vielleicht ganz heilsam,
zum mindesten schadet es keiner Seele."
Hanshenderk Solljer, Herbst 1922
Die aufkommenden, vielfältigen ländlichen Nebentätigkeiten der hier betrachteten Dorfbewohner orientierten sich an der seit Jahrhunderten vorherrschenden Landwirtschaft und etwa ab dem 18. Jahrhundert maßgeblich auch an den zwischen Solling und Holzberg vorgefundenen, anderen natürlichen Ressourcen, wie u. a. Holz, Wasser, Sand und Buntsandstein.
Neben dem traditionellen bäuerlichen Haupterwerb nahm hierbei in den Dörfern das facettenreiche Landgewerbe allmählich mit staatlicher Förderung an Umfang und wirtschaftlicher Bedeutung zu, wie insbesondere an der frühneuzeitlichen Dorfentstehung und -geschichte von Hellental anschaulich dokumentiert werden kann.
In den Dörfern der DORF:REGION kam dem Heimgewerbe, allen voran dem ergiebigen, exportorientierten Garnspinnen und Leinenweben, eine hervorgehobene wirtschaftliche und damit verbunden auch eine besondere soziale Bedeutung zu, aber auch dem Arbeiten in Waldglashütten, Hämmern, Kalköfen und in den Solling-Steinbrüchen.
Das im Hellental – dem „Alten Tal der Glasmacher“ - seit dem späten 12. Jahrhundert beheimatete Glashüttenwesen erhält dabei in den historischen Betrachtungen einen eigenen Schwerpunkt, nicht zuletzt auf Grund der hier allmählich vorangeschrittenen archäologischen Untersuchungen und der neueren historischen Entdeckungen.
Die in der DORF:REGION lebenden und arbeitenden Familien schufen in den zurückliegenden Jahrhunderten wichtige Grundlagen und buchstäblich „Bausteine” zu unserem heutigen Lebensstandard und Lebensgefühl in den spätmittelalterlichen Bauerndörfern Heinade und Merxhausen sowie im entlegenen Waldwinkel Hellental.
Lange Zeit galt insbesondere das Arbeiterdorf Hellental als eines der abgelegenen Armenhäuser des ehemaligen Weserdistrikts im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel.
Das Dorf
Rückblickend gilt das alte bäuerliche (vorindustrielle) Dorf als ein Bereich des Friedens, der Nachbarschaft und der guten Wirtschaft.[1]
Ausblickend gab HAUPTMEYER 1995 kritisch zu bedenken:
„Die in der gesamten Industrialisierungsphase seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schon arg bebeutelte und nach städtisch-romantischen Mustern folklorisierte dörfliche Kultur stirbt nun völlig ab und wird endgültig zum musealen Restgut.
Traditionen lassen sich kaum mehr weiter tragen, weil die Zahl der Menschen, denen etwas tradiert werden könnte, immer kleiner wird.“
Hierbei drängt sich nach wie vor aktuell eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen auf, wie beispielsweise:
-
Welche Zukunft werden die heutigen Dörfer haben, insbesondere jene, die in der peripheren Region liegen?
-
Wer bewohnt heute und künftig noch das Dorf als solches?
-
Was wäre zu tun, um die dörfliche, heute nur noch mit Relikten einst vielfältiger Funktionsangebote ausgestattete Infrastruktur wieder herzustellen?
-
Ist das Dorf inzwischen eine in sich langsam, aber stetig zerfallende Welt – und muss dieser Zerfallsprozess zwingend so akzeptiert werden?
-
Haben wir in den Dörfern noch soziokulturelle Restwerte, die es zu bewahren oder gar zukunftsweisend zu reaktivieren gilt?
-
Was war positiv und was war negativ am alten Dorf?
-
Was sind die biografisch gewachsenen Interessen früherer und heutiger Dorfbewohner?
- Was kann aus der Dorfgeschichte für die Gestaltung unserer Zukunft abgeleitet werden?
Dorfgeschichte(n) zwischen Solling und Sollingvorland
Bauernbefreiung und Wirtschaftswunder
Wie der südniedersächsische Landkreis Holzminden, so liegen auch die Dörfer der DORF:REGION naturräumlich inmitten des schönen, landschaftlich vielgestaltigen Weser-Leine-Berglandes, zwischen dem Höhenzug des nördlichen Sollings, des Heukenberg, Steinbergs und dem imposanten Holzberg - mit der ehemaligen Telegrafenstation № 27 der "Königlich Preußischen Optischen Telegraphielinie Berlin-Coeln-Coblenz".
Der „ansehliche“ Holzberg
mit mittelalterlichen Wölbäckern und ehemaliger Preußischer Telegrafenstation № 27
© HGV-HHM, Foto: Klaus A.E. Weber
Die hier lebenden und arbeitenden Menschen schufen über viele Generationen hinweg eine eindrucksvolle historische Kulturlandschaft, die sie vor allem bäuerlich geprägten.
Die Gemeinde Heinade weist in ihren drei Ortsteilen und mittelalterlichen Ortswüstungen eine recht unterschiedliche, teilweise auch gemeinsame dorfgeschichtliche Entwicklung auf.
Die Dörfer der DORF:REGION Heinade, Hellental und Merxhausen, ehemals selbständige Landgemeinden, zählen seit Anfang der 1970er Jahre als Ortsteile zur Gemeinde Heinade, die ihrerseits Mitgliedsgemeinde der Samtgemeinde Stadtoldendorf im Landkreis Holzminden ist.
Eingebettet zwischen den nördlichen Ausläufern des Mittelgebirges Solling und dem markanten Holzberg gehörte der entlegene Sozial- und Grenzraum seit dem Spätmittelalter zum Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel.
Aber erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges war der alte Weserdistrikt stärker in das Blickfeld der Zentralverwaltung des Landes Braunschweig getreten.
Ehemals zum alten Land Braunschweig gehörend, war auch die DORF:REGION eingebettet in dessen wechselvolle Geschichte - unter den braunschweigischen Landesfarben „blau-gelb“.
Die während des späten Mittelalters in den Kleindörfern Heinade und Merxhausen geschaffenen dörflichen Verhältnisse dürften sich bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts nur recht wenig verändert haben, einmal abgesehen vom aufkommenden Landhandwerk und der steuerlichen Belastung.
Ein mehr oder minder enges dörfliches Zusammengehörigkeitsgefühl sowie eine lokal organisch gewachsene, langlebige Identität, besonderes aber das ausgeprägte „Einheitsbewusstsein” bestimmen noch heute gelegentlich das unterschiedlich entwickelte Gemeinwesen von Heinade mit der Siedlung Pilgrim, Hellental und Merxhausen - trotz oder gerade wegen des engen Netzes durchgreifender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen in der jeweiligen, mehr oder minder langen Ortsgeschichte.
Dabei ergaben historische Untersuchungen aber auch, dass eine Korrektur an dem einen oder anderen tradierten Meinungsbild erforderlich ist, so beispielsweise an der noch verbreiteten Auffassung, die Menschen hätten früher stets in bester Nachbarschaft miteinander gelebt und gearbeitet, wie auch die Dörfer untereinander.
Die Beiträge der Unterkategorien zielen auch darauf ab, einerseits das Verständnis und die Begeisterung für die Besonderheit der teilweise noch weitgehend historisch erhaltenen Dorfanlagen zu fördern, andererseits im Zeitalter eines demografischen und klimatischen Wandels sowie einer wirtschaftlichen „Globalisierung” das persönliche Interesse an der, vielleicht auch eigenen, regionalen, lokalen und familiären Vergangenheit sowie an den langen verwandtschaftlichen Beziehungen in der DORF:REGION und darüber hinaus zu wecken.
Dargestellt werden die vielfach problematischen Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen in der eher abgeschiedenen nordöstlichen Sollingrandregion.
Dabei wird schwerpunktmäßig ein historischer Zeitraum skizziert, in dem die Menschen der Region ihre Existenz vornehmlich durch körperliche Aktivität sicherten.
Die historischen Betrachtungen und Beiträge verfolgen allerdings nicht das Ziel, ein geschlossenes ortschronistisches Geschichtsbild der DORF:REGION zu entwerfen.
© HGV-HHM, Foto: Klaus A.E. Weber
Heinade und Merxhausen sind spätmittelalterlich entstandene Bauerndörfer zwischen dem nördlichen Sollingrand und dem Holzberg, ehemals gelegen an der östlichen Landesgrenze des alten Weserdistrikts im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel.
Mittelsteinzeitliche und bronzezeitliche Funde in der Gemarkung Heinade und Merxhausen deuten darauf hin, dass in dem Raum zwischen Dassel und Stadtoldendorf bereits früh in vorgeschichtlicher Zeit menschliche Aktivitäten bestanden haben.
Bodenfunde im Hellental, die in das Mesolithikum zu datieren sind, weisen auf prähistorische menschliche Aktivitäten in dem angrenzenden Sollingtal hin.
Hervorzuheben ist der nordwestlich von Merxhausen liegende jüdische Friedhof des 19. Jahrhunderts.
Im Gegensatz zu den benachbarten spätmittelalterlichen Bauerndörfern entstand das Bergdorf Hellental erst 1753 im Rahmen des herzogliches Landausbaus unter Herzog Carl I. hervorgegangen aus einer ehemaligen Waldglashütte mit ortsfester Werkssiedlung.
In einem für die Glasherstellung topografisch günstigen Seitental des nördlichen Hellentals wurde sie von zugewanderten Glasmachern zu Beginn des 18. Jahrhunderts gegründet.
Nach gut drei Jahrzehnten Betriebszeit wurde die neuzeitliche Glashüttenanlage für immer stillgelegt; es war die letzte Glashütte im Hellental.
______________________________________________
[1] HAUPTMEYER 2004, S. 90.
[2] Abb. 13 in LANDZETTEL 1985, S. 113.