Niedergang des Leinengewerbes im Weserdistrikt

Klaus A.E: Weber

 

Verarmung und Verelendung der Leinen verkaufenden Haushalte

Noch um 1800 verlautet es vom Weserdistrikt in einer Beschreibung des Landes Braunschweig:[1]

"In keiner Gegend Niedersachsens wird auf die Bearbeitung und Pflege des Flachses soviel Fleiß und Mühe verwandt.

Fast jedes Haus hat seinen Webstuhl, und die Räder stehen nie still."

Zunächst sozio-ökonomisch begünstigt, wurde später das einst erwerbsträchtige Leinengewerbe durch die wirtschaftlichen Folgewirkungen der

  • napoleonischen Ära („Kontinentalsperre“)

  • „Napoleonischen Kriege” (1803-1805)

  • „Franzosenzeit” (1806-1815)

und durch die europäische Zollbinnenpolitik erheblich benachteiligt.

Von der napoleonischen „Kontinentalsperre“ wurde zum einen das Leinengewerbe als Heimgewerbe im Solling besonders hart betroffen.

Zum anderen verhinderte die „Kontinentalsperre“ aber auch, dass englische Stoffe auf dem europäischen Festland verkauft werden konnten.

Schwere existentielle Krisen waren die mittelbare Folge für die nebengewerblichen Leinenweber.

Zudem ermöglichten die im Aufbruch zur Industrialisierung weiter entwickelten Webmaschinen (u.a. Einführung des mechanischen Webstuhls) die Massenproduktion im textilen Gewerbe.

Das „englische Fabrikwesen“ verdrängte schließlich auch die hiesige Heim- und Handweberei.

Es kam dabei zu einem beispiellosen Absinken der Preise, so dass immer mehr Leinenweber in der Folgezeit zur Aufgabe ihres einst existenzsichernden Gewerbes gezwungen waren.

An die Stelle früherer finanzieller „Vorräte“ traten bei den Webern bald „Hypotheken“.[2]

Mit Beginn des industriellen Zeitalters im 19. Jahrhundert setzten sich gegenüber der Flachspflanze als Konkurrenzfaser die Baumwolle und deren maschinelle Verarbeitung rasch durch.

Die Absatzkrise von Leinenprodukten begann bereits um 1830 und konnte letztlich auch nicht durch die nun im Verlagssystem alternativ aufgenommene hausgewerbliche Baumwollverarbeitung aufgefangen werden.

Um das frühindustrielle Textilgewerbe wirtschaftlich zu sichern, waren zunächst vom 1834 gegründeten „Hannoversch-Oldenburgischen Steuerverein“, dem sich 1836 auch Braunschweig angeschlossen hatte, Schutzzölle gegen englische Textilprodukte eingeführt worden.

Wurde noch 1850 in Deutschland auf 250.000 ha Flachs angebaut, so waren es 28 Jahre später, 1878, lediglich nur noch 133.300 ha.[3]

Während Bauern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Betriebsumstellungen mit vermehrtem Marktfruchtanbau und durch Vergrößerung ihrer Viehbestände die erheblichen ökonomischen Einbußen im Flachsanbau kompensierten, konnten hingegen die Leinenweber im Hausgewerbe nicht mit der zunehmenden industriellen Weberei konkurrieren.

Dies führte bei einem großen Teil der Bevölkerung im braunschweigschen Weserdistrikt zur Erwerbslosigkeit mit zunehmender ökonomischen Verarmung und sozialer Verelendung.

 

Amalie Grabe als Kiepenfrau mit Leinenstoffen

um 1922 │ Merxhausen

© HGV-HHM

 

In der Zeit um 1833 boten die Erwerbsverhältnisse im damalige Weserdistrikt ein trostloses Bild.[4]

Da viele Leinenweber, trotz ihrer unermüdlichen Anstrengungen, an quälendem Hunger litten oder gar verhungerten, hieß es in jener Zeit in einem bitteren Spottlied:[5]

"Die Leineweber nehmen keinen Lehrling an, der nicht sechs Monate hungern kann."

Hierzu ist einer eindrucksvollen und zugleich plastischen Beschreibung des Notars STEINACKER aus Holzminden erläuternd zu entnehmen:[6]

"Der Weserdistrikt ist nie imstande gewesen, allein vom Ackerbau zu leben, sondern von jeher auf andere Erwerbsmittel angewiesen …

Elende Pferde, kleines Hornvieh sind charakteristisch für den Weserdistrikt …

Der Webstuhl verbreitete vormals eine Wohlhabenheit, welche bei der einfachen Lebensweise der Bewohner bei weitem mehr als die notwendigsten Bedürfnisse gewährte …

Die Ausfuhr ist jetzt noch ebenso bedeutend wie früher, aber die Konjunkturen haben sich geändert.

An einem Packen Leinwand – etwa die Arbeit einer Woche – konnte in früheren Zeiten der fleißige Weber einen Dukaten verdienen, jetzt ist er auf den trübseligen Gewinn von 12 bis 16 Ggr. [7] beschränkt, und wenn die alten Weber wohl von jenen goldenen Zeiten sprechen, so klingt das der jüngeren Generation wie Feenmärchen.

Englischen Händen würde deutscher Fleiß und deutsche Ausdauer trotzen; aber dem englischen Fabrikwesen sind sie nicht gewachsen, und der Bauer, welcher am Spinnrade oder auf dem Webstuhl sitzt, muß in schweigender Duldsamkeit sin in den Nachteil fügen, in welchen Menschenhände gegen die durch Maschinen wunderbar gebannten Kräfte der großen Natur immer notwendig gesetzt werden …

Die Unzulänglichkeit des Grundbesitzes … hat in allen Gegenden des Weserdistrikts die Zahl der Häuslinge zu einer kaum glaublichen Höhe gesteigert …

Die Sparpfenninge einer besseren Zeit sind verzehrt und an die Stelle der früheren Vorräte Hypotheken getreten …

Die Klage über zunehmendes Branntweintrinken im Weserdistrikte ist leider begründet genug.

Aber das Branntweintrinken ist nicht die Ursache, als vielmehr die Folge der Verarmung …

Man macht sich mitunter keinen Begriff von dem Elend, welches in den Hütten der Armen herrscht.

Wenn wir uns ein kleines, feuchtes und wenig erleuchtetes Wohngemach denken, welches kaum gegen Wind und Wetter notdürftigen Schutz gewährt, in demselben keine Betten, sondern einige im Winkel liegende Lumpen, welche die Stelle vertreten, oder auch wohl nur ein Haufen trockenes Laub und als Bewohner bleiche, abgemagerte Gestalten und in Lumpen gehüllte und hungrige, schmutzige, keine Spur Frohsinn zeigende Kinder, so haben wir ein Bild gezeichnet, welches leider nicht zu den Seltenheiten gehört, sondern den Zustand eines großen Teils der Häuslingsfamilien darstellt.

An Brotkorn können manche dieser Armen gar nicht denken, nur durch Kartoffeln fristen sie ihr Leben …

Eine Mißernte, wie die des Jahres 1830, bringt im Weserdistrikt fast jedes Mal namenloses Elend hervor, und der Hunger tritt in seinen ergreifendsten Erscheinungen auf.

Damals durften die armen Menschen nicht einmal des Morgens schon ihren Kleinen die gekochten Kartoffeln zum Frühstück geben, denn es wäre damit ja der Vorrat für den ganzen Tag aufgezehrt; die Hungrigen mußten bis zum Mittag warten und dann mit einem knapp bemessenen Mahle auf 24 Stunden sich zufrieden stellen.

Nicht selten wurden im nächsten Frühjahr Pflanzkartoffeln des nachts aus der Erde gegraben und gestohlen, und als endlich überall keine Kartoffeln mehr zu haben waren, schnitten die Hungrigen Kleeblüten ab, kochten dieselben in Wasser und tranken den Absud als einziges Lebensmittel …

Eine unglückliche Ernte, ein Viehsterben ruiniert Generationen und manche Höfe sind weiter nicht als Institute zur Fortführung der Grundpflichten …

Man erwäge, daß der Landbau des Weserdistrikts seit langem vom Kapital zehrt …

Hier scheint kein anderer Ausweg zu bleiben, als den Häuslingen etwas Grund und Boden vom Forstgrunde oder Domänenacker zum Anbau einzuräumen …

Die Leinenweberei wird einen großen Teil der Bevölkerung ernähren; aber den früheren Wohlstand wird sie nicht wieder erhalten …

Wenn man früher von Forstfrevel nichts wusste, so sind sie jetzt für die Gerichte zu einer wahren Plage geworden."

 

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[1] zit. in Rauls 1983, S. 152.

[2] TACKE 1946, S. 21.

[3] BUSSE 2002, S. 5.

[4] TACKE 1946, S. 20 f.

[5] BUSSE 2002, S. 4.

[6] zit. in RAULS 1983, S. 167 f.

[7] 1 Guter Groschen = 12 Pfennige.