Trink- und Saufkultur - Bier und Branntwein

Klaus A.E. Weber

 

Gasthaus Timmermann in Hellental um 1928 [12]

 

Gastwirtschaften, Wirtshäuser und die „Branntweinpest“

Als einer der zentralen Schlüssel zum Verständnis einer Kultur gilt der gesellschaftliche Umgang mit dem trinkbaren Alkohol und staatliche wie auch andere Versuche, dessen Produktion und Verbrauch zu regulieren.

Regional unterschiedliche Traditionen in der Trinkkultur blieben hierbei dennoch wirkungsmächtig.

Bier brauen zu dürfen war seit dem Mittelalter allein städtisches Recht.[1]

Auf dem agrarischen Land besaßen hingegen nur die Klöster und landesherrlichen Domänen das Braurecht, da die hier abhängig beschäftigten Bauern zu versorgen waren.[2]

Im Gegensatz zum Bierbrauen mit braurechtlicher Gestattung durch den Landesherrn war das Brennen von Branntwein ein freies Gewerbe, welches sich zu einem wichtigen Nebengewerbe im Solling entwickelte.

Der Branntwein war bis tief in das 19. Jahrhundert hinein ein weit verbreitetes, im Vergleich zum Bier ein vergleichsweise billiges alkoholisches Volksgetränk.

Die Gastwirtschaft – im Dorf der Krug, das Wirtshaus oder die Dorfschenke, später auch Kneipe genannt – war seit jeher Kommunikationszentrum und „Nachrichtenbörse” für das dörfliche Leben und damit zugleich ein wesentlicher Kulturindikator.[11]

Das Gaststättenwesen war zunächst ein eher unbeachtetes Hausgewerbe, meist betrieben im Nebenerwerb zur Landwirtschaft.

Das Krugrecht lag beim braunschweigischen Landesherrn im Hinblick auf die Entrichtung von Krugzins.

Für die Aufbewahrung und Darreichung alkoholischer Getränke wurden bis in das 20. Jahrhundert hinein fast ausschließlich Glasflaschen benutzt.

Insbesondere der Branntwein (Schnaps) [3] war bis tief in das 19. Jahrhundert hinein ein weit verbreitetes alkoholisches Volksgetränk, belegt mit einer Branntweinsteuer als Verbrauchssteuer.[4]

Wie in den Dörfern Heinade, Merxhausen und Hellental, so nahm gerade in den schlechten Jahren im gesamten Solling der exzessive Konsum von Branntwein eine bedeutende gesundheitliche Rolle ein – am herzoglichen Hofe gescholten als "Brannteweinsaufen" und "verderbliche Tyrannei".

Gleiches gilt für die allabendliche Einkehr in den örtlichen Dorfkrug.

Welche enorme gesellschaftliche und fiskalische Bedeutung dem Branntweinkonsum im Herzogtum Braunschweig des 18. Jahrhunderts zukam, unterstreicht beispielsweise die am 14. November 1765 von Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel erlassene Verordnung zur gewerblichen Versteuerung "aller Brannteweins" und deren gewissenhafte behördliche Kontrolle.[5]

 

Von Gottes Gnaden, CARL,

Herzog zu Braunschweig und Lüneburg

Uns ist unterthänigst vorgestellt worden, wasgestalt bey Einnahme // der Branntweins=Acciße, dadurch die mehresten Unterschleiße vorgehen, daß vieler // Branntewein theils vorseßlich gar nicht, theils erst nach Verfließung einiger Zeit, zu späte, eingeschrieben // werde, wobey es denn den Consumenten selten an Entschuldigungs=Ursachen fehlet, welche vornehmlich // darauf beruhen: daß in den Verordnungen eine gewisse Zeit zum Einschreiben nicht bestimmt worden sey. // Diesem für das künftige vorzubeugen, verordnen Wir hiemit, und wollen, daß von Publication dieser Unserer Fürstl. Verord= // nung anurechnen, aller Branntewein, bey des, welcher zur Niederlage hingelegt, als auch der zum einzelnen Verkauf, oder auch zum // eigenen Gebrauch eingezogen wird, binnen der ersten 24 Stunden, nach dem er abgeladen, und ins Haus gebracht worden, in die da= // zu verordnete Consumtions-Bücher eingeschrieben, bey dessen Unterlassung aber der vorgefundene Branntwein ohne Unterschied, und // ohne die mindeste Nachsicht confisciret, dessen Werth aber zur Hälfte der Landschaftlichen Casse verfallen seyn, und die andere Hälfte dem //Denuncianten gereichet werden solle.

Es haben also die Landschaftlichen Bedienten auf die Contraventions-Fälle ein wachsames Auge zu halten; Unsere Ober= und Be= // amten aber, und übrige Gerichts=Obrigkeiten, desgleichen die Magistrate in den Städten, werden hiedurch gnädigst beseligt, denselben // darunter nachdrücklich zu assistiren, und darüber zu halten, daß dieser Unsrer Verordnung in allem gebührlich nachgelebet werde.

Damit auch solche zu jedermanns Wissenschaft kommen möge, haben Wir gnädigst befohlen, daß solche durch Druck publici- // ret, und an gehörigen Orten öffentlich angeschlagen werden solle; wie denn auch ein Exemplar derselben den eingeführten Consumtions- // Büchern jedesmal beyzufügen ist. Urkundlich Unserer eigenhändigen Unterschrift und beygedruckten Fürstl- Geheimen=Canzley Siegel.

Gegebenzu Unserer Stadt Braunschweig, den 14ten November 1765.

CARL                                (L. S.)[6]           J. H. v. Bötticher.

Herz. z. Br. u. L.

 

Die im Solling weit verbreitete Trunksucht diente wohl auch der psychischen Entlastung vom alltäglichen wirtschaftlichen und sozialen Druck.[7]

Bei den schlechten, materiell und sozial benachteiligenden Lebens- und Arbeitsbedingungen sahen viele Dorfbewohner im preiswerten Branntweintrinken die einzige Möglichkeit, diese überhaupt psychisch ertragen und der drohenden Depression entfliehen zu können.

Das Branntweintrinken wurde zum legalen Drogengebrauch und in der Folge auch vielfach zur schweren stoffgebundenen Sucht in der Sollingregion.

In diesem gesundheitlichen Kontext entfalteten sich in Sollingdörfern erhebliche psychische Gesundheitsstörungen.

In der Folge ereigneten sich auch Selbsttötungen.

Ein Dorfbewohner „hat sich aus Verdüsterung des Lebens selbst den Hals abgeschnitten“, wie es ein Kirchbucheintrag ausweist.

In der 1929 von Heinrich Sohnrey veröffentlichten Wilddiebserzählung „Die Branntweins-Buddel auf dem Sarge“ aus „dem im braunschweigischen Teile des Sollings gelegenen Walddorfe Hellenthal“ geht es um den äußerst derben Hellentaler Wilddieb, den Brinksitzer Karl Greinert.

Einem Leineweber, der bei ihm wohnte und sich erhängt hatte, setzte er zum Spaß eine Branntweinbuddel auf den Sarg, weil der Leineweber gern einen getrunken hatte.

45jährig tötete sich Greinert im August 1868 „mittels Erschießens“ selbst - mit jener Flinte, mit der er unzählige Hirsche und Rehe erlegt hatte.

Anzumerken ist, dass der Branntwein während der Ernährungskrisen des 19. Jahrhunderts großen Bevölkerungsteilen auch als wichtiger Kalorienlieferant gedient haben soll.

STEINACKER beschreibt zu Beginn der 1830er Jahre beispielhaft, dass die Verdienste der Leinenweber nach Einführung des englischen Fabrikwesens erheblich zurückgegangen waren und hierdurch eine problematische Entwicklung einsetzte:[8]

"Die Klage über zunehmendes Branntweintrinken im Weserdistrikte ist leider begründet genug.

Aber das Branntweintrinken ist nicht Ursache, als vielmehr Folge der Verarmung und beschleunigt durch Wechselwirkung die Fortschritte des letzteren bedeutend."

Zudem diente der Branntwein noch während der Ernährungskrisen der 1840er Jahre großen Bevölkerungsteilen als wichtiger Kalorienlieferant.[9]

Allerdings gilt es hierbei zu berücksichtigen, dass ein Tagelöhner um 1850 pro Tag 16 gute Groschen (192 Pfennige) verdiente und der Preis für eine Kanne Branntwein (1,9 l) 10 gute Groschen und 8 Pfennige (128 Pfennige) betrug;

1881 kostete 1,0 l Wickenser Branntwein 66 Pfennige.[10]

 

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[1] Braurecht der Stadt Einbeck.

[2] Brauerei Allersheim (1854).

[3] Extrakt freies oder Extrakt armes Getränk mit einem Alkoholgehalt von mindestens 32 Vol.%, gewonnen durch Destillation („Brennen“) gegorener zuckerhaltiger pflanzlicher Produkte (Flüssigkeit aus Roggen-, Weizen- oder Gerstenmalz).

[4] PARENT 1998, S. 134.

[5] aus der Hinterlassenschaft des ehemaligen Wald- und Löns-Museums Hellental von Willi Lessmann.

[6] Fürstliches Kanzleisiegel.

[7] SCHUBERT 1997.

[8] zit. in ANDERS 2004, S. 273.

[9] PARENT 1998.

[10] HENZE 2004, S. 91 ff.

[11] SCHÄFER/TEUTEBERG 2013.

[12] Ausschnitt aus einer verschollenen Ansichtskarte, datiert 1928.