Schicksal von Kindern und Jugendlichen

Klaus A.E. Weber

 

Von der "Kindheit" (im heutigen sozialwissenschaftlichen Sinn als definierter Schonraum und Lebensabschnitt für Lernen und Sozialisation) gab es während der frühen Neuzeit keinen einheitlichen Begriff, keine eindeutige Auffassung.

Wurden im 16.-17. Jahrhundert Kinder überhaupt quellenmäßig erwähnt, so handelt es sich dabei ausschließlich um Kinder bis zum 7. Lebensjahr.

Erst mit der aufkommenden Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickelten sich heutige Vorstellungen über diesen frühen, prägenden Lebensabschnitt - im historisch-kulturellen Zusammenwirken von drei wesentlichen Faktoren:

  • Aufklärung (Rousseau)

  • Industrialisierung (um Kinder auf den Beruf vozubereiten wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt)

  • aufkommende „bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft“ (Bildung, Lernen, Leistung werden hoch bewertet).[1]

Kinder waren vormals zwar noch nicht völlig in einen Arbeitsprozess eingebunden, galten aber in der Kirche und vor Gericht als voll verantwortlich.

Entweder gingen Kinder mit sieben Jahren zur Schule und wechselten damit in die Phase der außerfamiliären Erziehung oder sie waren – häufig in der frühen Neuzeit - bereits in den Arbeitsprozess integriert.

Standesunabhängig war das Leben der Kinder vielfältigen, oft vital bedrohlichen Risiken ausgesetzt.

So galt es für Neugeborene, insbesondere die Lebensgefahren der ersten nachgeburtlichen Zeit (Tage, Monate) gesundheitlich unbeschadet zu überstehen.

Bei den genealogischen Daten und ihrer Interpretation gilt es zu berücksichtigen, dass - unabhängig von ihrem chronologischen Alter - als Kinder alle Nachkommen eines Ehepaares bezeichnet wurden, wenn sie im elterlichen Hause lebten, unverheiratet und der Gewalt des Hausvaters unterstellt waren.

Somit war damals die Lebensspanne der Kindheit nicht präzise auf ein bestimmtes Alter terminiert.

Des Weiteren ist zu bedenken, dass bis in das 17. Jahrhundert hinein, zahlreiche Menschen ihr tatsächliches Alter nur annäherungsweise, wenn überhaupt, kannten.

So war oftmals nur das äußere Erscheinungsbild entscheidend, ob eine Person als Kind oder als Erwachsener angesehen wurde.

Die heute definierte Lebensphase der Jugend war der Gesellschaft der frühen Neuzeit völlig fremd.

Die Kindererziehung verlief während der frühen Neuzeit dem jeweiligen sozio-ökonomischen Stand entsprechend nach unterschiedlichen Aspekten.

Die analysierten Kirchenbucheinträge weisen eine nicht unbeträchtliche Anzahl „unehelicher“ und „vorehelicher“ Geburten in den betrachteten Dörfern aus.

Diese Erkenntnis ist nicht ungewöhnlich, waren doch uneheliche bzw. voreheliche Schwangerschaften in jener Zeit durchaus ein „Dauerproblem“, insbesondere eines von Mägden.

Aber auch die gesetzlichen Ehebeschränkungen jener Zeit begünstigten geradezu einen Anstieg illegitimer (unehelicher) Geburten.[2]

Neben "Copulirte" und "Getaufte" bei "Kirchensachen" wurden in den „Braunschweigischen Anzeigen“ "Unter Sr. Durchl. Unßers gnädigsten Herzogs und Herrn, höchster Approbation, und auf Dero gnädigsten Specialbefhel" auch Eheschließungen öffentlicht bekannt gegeben.

So wurden beispielsweise im August 1769 die folgenden "Gerichtl. Confirm. Ehestiftungen beym Fürstl. Amte Allersheim" angezeigt und veröffentlicht:[3]

  • Friedr. Wilh. FLOTO, und Ann. Cath. KUHLMANNS - Merxhausen
  • Joh. Chrph. KOEKEN, und Eng. Louis. APPELS - Merxhausen
  • Joh. Dav. MÜLLER, und Cath. Mar. BRÖMERS - Merxhausen
  • Wilh. RÄCKERN, und Hoh. Soph. TEIWES - Merxhausen/Heinade

 

Wie für andere Sollingdörfer, so kann auch für Heinade, Hellental und Merxhausen anhand der ausgewerteten genealogischen Daten ein direkter Zusammenhang zwischen materieller Armut und aufgeschobener („voreheliche Geburt“) oder nicht vollzogener Eheschließung („uneheliche Geburt“) angenommen werden.

Häufige Probleme waren hierbei die aufzubringenden Gebühren für die Eheschließung sowie die anstehenden Kosten für die aufwändige „traditionelle“ und standesgemäße Hochzeit.[4]

Die Anzahl „unehelicher Geburten“ hatte in den politisch unruhigen 1840er Jahren im Solling ihren Höchststand erreicht.

Danach ging sie im Zusammenhang mit den erheblichen Aus- und Abwanderungen aus dem Herzogtum Braunschweig um etwa 1/3 zurück.[5]

Nach einer Landesverordnung mussten im Herzogtum Braunschweig die Kindtaufen am dritten oder vierten Tag nach der Geburt vorgenommen werden.[6]

Üblicherweise erfolgte, wie die untersuchten Kirchenbucheinträge ausweisen, die Taufe in der jeweiligen Dorfkirche oder -kapelle wenige Tage bis hin wenige Wochen nach der Entbindung.

Bei einzelnen Geburten waren auch Nottaufen erforderlich.

Die im Hellentaler Ortsfamilienbuch [7] verzeichnete Anzahl von Kindern pro Hellentaler Familie belief sich von einem Kind bis zu maximal 13 Kindern mit einer relativen statistischen Häufung um etwa 4-8 Kinder.

Die Geburtenziffer (durchschnittliche Kinderzahl je Frau) betrug in jenem Zeitraum in Deutschland etwa 4,5–5,0 bei später deutlich sinkender Tendenz.

In dem hier betrachteten geschichtlichen Zeitraum verstarb eine Vielzahl von Kindern bereits wenige Wochen oder Monate nach der Geburt oder noch im Klein– bzw. Schulkindesalter.

Die Mortalitätsrate (Sterblichkeitsrate) von Säuglingen war in der frühen Neuzeit regional enorm hoch, ebenso die von Kleinkindern.

Nur etwa 50-60 % der Lebendgeborenen erreichten das zeugungsfähige bzw. Erwachsenenalter.

 

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[1] Nds. Landeszentrale 2004, S. 155 f.

[2] SPIEKER/SCHÄFER 2000.

[3] Braunschweigischen Anzeigen, August 1769, 62. Stück, 715/716.

[4] SPIEKER/SCHÄFER 2000.

[5] SCHUBERT 1997.

[6] RAULS 1983, S. 145.

[7] NÄGELER/WEBER 2004.