DORF:REGION │ Vorstoß in die eigene Ortsgeschichte

Klaus A.E. Weber

 

Heinade um 1985

Foto: Wilhelm Landzettel [3]

 

Vorbemerkung

Nach dem Hannoveraner Historiker Carl-Hans Hauptmeyer [3] wurden in Niedersachsen die regionalen Entwicklungspotentiale über Jahrhunderte hinweg immer wieder von „nachholender Modernisierung oder Konkurrenzfähigkeit durch Imitation“ geprägt.

Dabei sei für Niedersachsen im interregionalen Vergleich die „hohe Stabilität sozialer Milieus und eine Langlebigkeit regionaler Identitäten“ charakteristisch.

Zudem stellte Hauptmeyer [4] fest, dass nur genügend großer äußerer oder innerer Druck in Niedersachsen die Bereitschaft zu Reformen fördert und in anderen Teilen Deutschlands und Europas entworfene Vorbilder als Innovation übernommen werden.

Noch heute bleibt in Niedersachsen das bewahrende Moment „im Vergleich zu Südwestdeutschland oder Westeuropa stets stärker als das modernisierende“.

 

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Heinade - auf einem Plateau [13]

 

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Hellental - am Berg [13]

 

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Merxhausen - in einem Bachtal [13]

 

Früher waren „die Zeiten weder besser noch die Menschen christlicher“ [7]

Der Höhepunkt mittelalterlicher Rodungen im Weserbergland liegt in den Jahrzehnten um 1200-1350.[16]

In diesem Zeitraum dürften am Nordsolling als agrarische Randsiedlungen auch Heinade und Merxhausen gegründet worden sein.

Wie in anderen Dörfern des nordwestdeutschen Raums entwickelte sich auch in den beiden Sollingranddörfern seit dem Spätmittelalter eine spezifische Lebens- und Wirtschaftsform, charakterisiert durch die „Grundherrschaft" und das „Meierrecht".

Erst durch die durchgreifenden Agrarreformen des 19. Jahrhunderts wurde jene über Jahrhunderte bewährte und weiterentwickelte Form der Agrarverfassung

abgelöst, die ländliche Gesellschaft von Grund auf verändert und die Voraussetzungen für die Industrialisierung geschaffen.

Anders als die benachbarten Bauerndörfer liegt das geschichtlich wesentlich jüngere, vorindustrielle Waldarbeiter- und Handwerkerdorf Hellental innerhalb einer Grabenstruktur des Nordsollings, wo es 1753 aus einer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts betriebenen Glasproduktionsstätte entstanden ist.

 

Dorf │ Acker │ Wiese │ Wald │ Glas

"Grundsätzlich müsse man sich klarmachen, dass gerade in mündlichen Gesellschaften wie dem Mittelalter die Vergangenheit nicht unbedingt so überliefert wurde, wie sie sich zugetragen hatte." [10]

In den Naturräumen des nördlichen Sollings und der anschließenden hügeligen Landschaft des Holz- und Heukenbergs mit den Talsenken um Heinade und Merxhausen sowie in Pilgrim und im Hellental vollzog sich ein beispielhaftes Wechselspiel zwischen der durch Menschenhand veränderten Natur und Landschaft und den sich lokal auswirkenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen während des ausgehenden Spätmittelalters, der frühen Neuzeit und des neuzeitlichen Aufbruchs zur Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts.

Das folgende 19. Jahrhundert gilt als die eigentliche Epoche der Industrialisierung.

Die Bedeutung der zuvor bestehenden, alten landwirtschaftlichen Ordnung wird ebenso skizziert wie deren Aufhebung durch die Agrarreformen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Zudem gilt es die zahlreichen Einwanderungen, vor allem aber die erheblichen Auswanderungen im 18./19. Jahrhundert (Aufbruch in die „Neue Welt“ – das "Americafieber") und deren politische wie soziale Dimension im demografischen Wandel zu skizzieren.

Hierbei wird deutlich, dass Migration und „demografischer Wandel“ nicht nur besonders zentrale (wieder entdeckte) Themen der Gegenwart sind, sondern vielmehr bereits auch welche in der Vergangenheit waren.

Bei den differenzierten Betrachtungen zu den Landleuten zwischen Nordsolling und „Holtzberg“ können auch künftig nicht alle Aspekte der Siedlungs-, Wirtschafts- und Gewerbe-, Sozial- und allgemeinen Dorfgeschichte von Heinade, Hellental und Merxhausen aufgegriffen werden.

Die ländlichen, agrarischen wie nicht-agrarischen Einkommensstrukturen erlangten in der frühen Neuzeit zunehmend an Bedeutung.

Sie werden daher in ihren Grundzügen gegenübergestellt.

Wirtschafts- bzw. gewerbegeschichtlichen Aspekten wird insbesondere auch deshalb nachgegangen, da in unserer Zeit der klassischen Erwerbsarbeit nicht mehr die Bedeutung zukommt, die sie früher einmal innehatte. Erwerbsarbeit gilt heute nicht mehr als alleinig Sinn stiftend.

Mit einiger Berechtigung kann heute angenommen werden, dass mehr oder minder auch die „kleinen Landleute“ zwischen dem nördlichen "Sölling" und dem Holzberg in die regelmäßigen, wellenförmigen Veränderungen, in den konjunkturellen Auf- und Abwärtsbewegungen des überregionalen bis hin europäischen Wirtschaftsgeschehens, eingebettet waren.[11]

So vielgestaltig die historische Kulturlandschaft dieser Kleinregion ist, so mannigfach ist auch ihre jahrhundertealte Geschichte, die im Wesentlichen vom Verlauf der Agrarkonjunktur abhängig war.

Dabei kennzeichnete während des Mittelalters wie auch in der frühen Neuzeit insbesondere schwere landwirtschaftliche Krisen und anhaltende Agrardepressionen mit Hungerjahren das bäuerliche Leben und Arbeiten.

 

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Grenzort Merxhausen [2] - Das agrarisch geprägte "Dörp undern Sollige"

© HGV-HHM, Archiv

 

Die DORF:REGION um Heinade mit der Sollingsiedlung Pilgrim, Hellental und Merxhausen sollte als eigener Sozialraum betrachtet werden, bis heute gekennzeichnet vom sozialen Miteinander - und auch Gegeneinander.

Aus der heutigen Position des beginnenden 21. Jahrhunderts zurückblickend, mag vordergründig bisweilen das Dorf als eine festgefügte Gemeinschaft weitgehend sozial gleichgestellter Personen erscheinen.

Dieser zu einfachen wie vereinfachenden Annahme war im Kontext der historischen Betrachtung auch anhand veröffentlichter Personendaten zu widersprechen.

 

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Ortstypische Bauernhäuser in Heinade um 1918 2014

© HGV-HHM, Archiv │ © Foto: Klaus A.E. Weber

 

Heinade und Merxhausen können als spätmittelalterliche, agrarische Dorfansiedlungen angesehen werden.

In diesem Kontext wird auf das im Jahr 2010 veröffentlichte, umfassende Standardwerk zum Mittelalter in der Sollingregion von STEPHAN verwiesen.[9]

Während Heinade und Merxhausen mittelalterliche Bauerndörfer des hier betrachteten südniedersächsischen Berglandes sind, kann das Hellental mit seiner späten, erst neuzeitlichen Besiedlung hingegen eher als vorindustrielle „Gewerbelandschaft“ angesprochen werden, ebenso auch die kleine Sollingsiedlung Pilgrim im Hinblick auf ihre Glasgeschichte.

Die wichtigste Einnahmequelle der Landleute der beiden nördlichen Sollingranddörfer Heinade und Merxhausen war ehemals die Landwirtschaft. Heute sind die Folgen der modernen Mechanisierung und Spezialisierung in der Landwirtschaft allgegenwärtig.

So spielt die ehemals bedeutende Landwirtschaft in den hier betrachteten Dörfern eine immer mehr nachlassende Nebenrolle.

Inzwischen entwickelten sich Heinade, Hellental und Merxhausen vornehmlich zu Wohn-Pendler-Orten mit Freizeit- und Feierabendgemeinschaften.

Neben einer orientierenden Skizze zum traditionellen bäuerlichen Landleben sollte unter gewerbegeschichtlichen Aspekten gerade auch der facettenreiche teils legale, teils illegale Nebenerwerb durch ländliches Handwerk und Gewerbe - die Landleute als nichtzünftige „Pfuscher“ am Solling und Holzberg - mit einer angemessenen Betrachtung bedacht werden.

Während der frühen Neuzeit teilte sich die Landbevölkerung in „Vollbauern“ und „unterbäuerliche Schichten“ auf, die sich charakterisierend für diese Epoche stetig vergrößerte.

Angehörige jener „unterbäuerlichen Schichten“ waren typischerweise Kleinbauern ohne ausreichend großes Land für ihre ausschließlich agrarische Subsistenz, aber auch alleinige Hausbesitzer sowie land- und hausbesitzlose Familien.

Sie konnten sich nicht alleine auf landwirtschaftlicher Grundlage bedarfsgerecht ernähren.

Eine minimale Acker- oder Viehwirtschaft, nichtzünftiges ländliches Handwerk, hausgewerbliche Tätigkeiten sowie Lohnarbeit dienten, wie in Hellental, als Lebensgrundlage.

 

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Hellental - Ortstypische Arbeiterhäuser vom Typ "Sollinghaus"

© HGV-HHM, Archiv │ © Foto: Klaus A.E. Weber

 

Zeittypisch für Hellental, wie auch für andere Sollingdörfer, war, dass der Lebensunterhalt der meisten Familien nur durch Erwerbsarbeit verdient oder ergänzt werden konnte; Lebensmittel mussten gekauft oder zumindest zugekauft werden.

Archäologische Spuren in Form steinerner Hinterlassenschaften prähistorischer Menschen weisen heute darauf hin, dass bereits vor 7.500–10.000 Jahren - während der Mittelsteinzeit (Mesolithikum), der Übergangsphase zwischen Alt- und Jungsteinzeit - zwischen dem Dasseler Becken und dem Stadtoldendorfer Raum, aber auch im Verlauf des Hellentales nomadisierende Menschen als Rentierjäger aktiv gewesen sind.

Hierzu kann auf prähistorische Funde in der Nähe von Heinade und Merxhausen sowie im Hellental verwiesen werden.

Zudem bedeutet der Einzelfund eines schlichten Absatzbeils aus Kupferlegierung, dass sich auch während der älteren Bronzezeit (um 1.600 v. Chr.) Menschen in diesem nördlichen Sollingrandgebiet aufgehalten haben.

Anzumerken ist, dass in der verfügbaren Literatur nur gleichsam fragmentarisch nebeneinander stehende, themenspezifische Abhandlungen und Betrachtungen zu unterschiedlichen Einzelaspekten über die DORF:REGION Heinade mit Pilgrim, Hellental und Merxhausen und zu ihrer spätmittelalterlichen, im Falle von Hellental und Pilgrim relativ jungen, neuzeitlichen Geschichte, zu finden sind.

Hingegen fehlte bislang eine umfassende, inhaltlich bündelnde Zusammenschau dessen, was die drei Dörfer heimat- und naturkundlich wie auch vornehmlich ortsgeschichtlich auszeichnet.

Für zahlreiche Ortschaften im Landkreis Holzminden wurden bereits Höfe-, Häuser- oder Dorfchroniken erstellt; zudem liegen auch umfängliche Register und Chroniken mit überwiegend familienkundlichem Bezug vor.

Auf die Ortsfamilienbücher von Nachbargemeinden wird daher verwiesen.

 

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[1] seit 1991 Naturschutzgebiet HA 150 "Holzbergwiesen" mit einer Fläche von rund 375 Hektar.

[2] Ausschnitt aus einer Tuschezeichnung von 1708 - NLA WO, Alt 2104, darin K13341│ CREYDT 2013, S. 84 Abb. 1.

[3] Abb. 14 in LANDZETTEL 1985, S. 114.

[5] Rede von Prof. Saul Friedländer am 31. Januar 2019, Historiker und Holocaust-Überlebender / Gedenken im Deutschen Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus anlässlich des 74. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.

[7] nach HÄNDELER 2005.

[3] HAUPTMEYER 2004, S. 2.

[4] HAUPTMEYER 2004, S. 102f.

[7] nach HÄNDELER 2005.

[8] HAUPTMEYER 2004, S. 90.

[9] STEPHAN 2010.

[10] SCHUBERT 2015.

[11] HÄNDELER 2005.

[13] Luftbildaufnahmen: © „Die Eule“, Zeitung in Einbeck - mit freundlicher Genehmigung 2016.

[16] STEPHAN 2010, S. 134.