Lein anbauen, Flachsgarn spinnen, Leinen weben

Klaus A.E. Weber

 

Ein heute fast vergessenes Erwerbskapitel im alten Hellentaler Oberdorf

Bis zur Entwicklung und Einführung des Spinnrades um 1530 wurde überall im ländlichen Raum im Rahmen der Familienwirtschaft das Textilgewerbe betrieben, vornehmlich dort die Leinenweberei, wo die besonders karge Landwirtschaft nicht mehr zur Existenzsicherung ausreichend war.[12]

Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges nahm das Leinengewerbe einen Aufschwung und erreichte mit besonderer staatlicher Förderung um die Mitte des 18. Jahrhunderts seine Blütezeit, so als Haupterwerbsquelle der „kleinen Leute“ im Solling.

 

Schaukasten der Weberei Wilhelm Kübler & Co │ Stadtoldendorf │ 1959

Heimatmuseum Seelze

© HGV-HHM, Foto: Klaus A.E. Weber

 

„Der Flachs geht neunmal durch des Menschen Hand“

 

Ei, wie so töricht ist, wenn man’s betrachtet,

wer einem Leineweber seine Arbeit verachtet.

Kein Mensch auf dieser Welt, der seine Arbeit nicht bestellt,

jeder muß sagen: Leineweber muß man haben.

 

Wann ein klein Kind auf die Welt wird geboren,

wird ja dem Leineweber seine Arbeit auserkoren:

in ein feins Windelein wird es gewickelt ein,

Bänder gewebet man darum leget.

 

Wenn sich eine Jungfrau auf schönste will zieren,

muß sie dem Leineweber seine Arbeit erküren:

ein feines Hemdelein, um und um Spitzelein,

ein neues Kleide zur Lust und Freude.

 

Kaiser und König und mächtige Herren

Können dem Leineweber seine Arbeit nicht entbehren:

ziehen sie in das Feld, sind vor den Feind gestellt,

zum Zeltaufschlagen Leineweber muß man haben.

 

Als unser Heiland zum Leiden ist kommen,

hat er dem Leineweber seine Arbeit genommen:

in ein feins Tüchelein drückt er sein Antlitz ein,

tät sich verneigen der Welt zum Zeichen.

 

Altes fränkisches Volkslied

 

Noch heute erinnern alltägliche Redewendungen, wie beispielsweise

  • sich verheddern

  • etwas durchhecheln

  • herumflachsen

  • verzetteln

  • einspinnen

  • er hat einen Webfehler

an das ehemals sehr bedeutende agrarische Nebengewerbe der Flachsverarbeitung und Leinenherstellung zwischen Weser und Leine.

Im Gegensatz zum Woll- und späteren Baumwollgewerbe kam im Herzogtum Braunschweig um 1800 dem Garnspinnen und Leinenweben eine sozio-ökonomisch hervorgehobene Rolle zu.

Der Flachsanbau wie das Herstellen von Leinengeweben erlangte neben einer agrarischen vor allem eine entscheidende Bedeutung als wichtiger nicht landwirtschaftlicher Produktionszweig im sekundären Wirtschaftssektor.[1]

Das niedersächsische System des Garn- und Leinengewerbes beruhte variabel auf der landwirtschaftlichen Arbeit, der gewerblichen Tätigkeit und auf dem kaufmännischen Interesse.[2]

Es gab zunächst aber nur wenige berufsmäßige Leinenweber.

Wurden auf dem Land vormals Webwaren nur für den häuslichen Eigenbedarf hergestellt, so produzierte man in der Folgezeit in Heimarbeit aus Flachs und Heede gewebte Stoffe für den nebengewerblichen Verkauf.

In einem Haushalt wurden alle Produktionsstufen durchgeführt – von der Flachsaussaat bis zur Herstellung des verkaufsfertigen Leinen.

Die gewerbsmäßige Hausweberei war außerordentlich arbeitsintensiv.

Sie entwickelte sich schließlich für die zahlreichen Familien der anwachsenden „unterbäuerlichen Schichten“ zu einer Haupteinnahmequelle.

Für die hier betrachtete Region sei angemerkt, dass für Bauerntöchter das aus selbstgesponnenem Flachs hergestellte Linnen eine besonders große, auch ehevertragliche Relevanz für deren Aussteuer („Brautschatz“) hatte.[3]

 

Wie Leinen Europa vernetzte [13]

Die Produktion und der Handel von Leinen waren für viele Menschen in Europa und insbesondere der Ostschweiz das tägliche Brot, buchstäblich.

Ein ganz besonderes Landschaftsgemälde aus den Niederlanden im Kunsthaus Zürich erzählt eine Geschichte von globaler Vernetzung und Abhängigkeit.

 

Gemeiner Flachs oder Gemeiner Lein (Linum usitatissimum)

© HGV-HHM, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Die Leinpflanze (Linum usitatissimum)

Die nicht besonders anspruchsvolle Leinpflanze (Linum usitatissimum = „äußerst nützlicher Lein“), eine uralte, vielseitig verwendbare Kulturpflanze (im allgemeinen Sprachgebrauch meist auch „Flachs” genannt), dient noch heute der Faser- und Ölgewinnung.

Darüber hinaus fand und findet die Leinpflanze noch heute auch in der Volksmedizin Verwendung, da sie pharmazeutisch gut nutzbar ist, wie auch vielfach in der Küche und Kosmetik.

Besonders bedeutsam war unter frühneuzeitlichen Effizienzgesichtspunkten, dass alle Teile der kultivierten Leinpflanze im Verarbeitungsprozess restlos verwendet werden konnten.

So wurden aus dem hochstengeligen bastfaserreichen Faserlein (60-120 cm) Garne und Leinengewebe hergestellt und die öl- wie proteinhaltigen Leinsamen aus dem niedrig wachsenden Öllein (40-80 cm) zu Leinöl weiterverarbeitet.

Zudem wurde Flachs auch importiert, beispielsweise aus dem benachbarten Hochstift Hildesheim und aus Thüringen.[4]

 

Flachs und Leinenerzeugnisse

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der aus der Leinpflanze gewonnene Flachs in Europa die hauptsächlichste Pflanzenfaser und - neben Leder und Wolle - der wichtigste Rohstoff im umfangreichen und bedeutenden Textilgewerbe.[5]

Die fertigen Leinengewebe bezeichnete man damals qualitätsabhängig als „Leinen“, „Linnen“ oder „Leinwand“.[6]

Das textile Produkt Leinwand wurde auch auf überseeischen Märkten verkauft.

So wurde die Leinwand in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts teilweise nach Nordamerika und Westindien exportiert.[7]

Niedersächsische Leinenerzeugnisse wurden ab der Mitte des 16. Jahrhunderts hauptsächlich nach den Niederlanden ausgeführt.[8]

Wie TACKE [10] zu entnehmen ist, wurde im Braunschweiger Weserkreis hauptsächlich eine „gröbere Sorte ungebleichter Leinewand, welche im Handel unter dem Namen Leggelinnen bekannt war, und für welche der Hauptmarkt seit langer Zeit das südliche Amerika und Westindien“ war, hergestellt („Löwendleinen“).

Die von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im Weserbergland weit verbreitete Leinwandproduktion hielt als maßgebliches landhandwerkliches Gewerbe jener Zeit auch bei Familien der hier betrachteten Dörfer zwischen Nordsolling und Holzberg Einzug.

Das vorindustrielle ländliche Textilgewerbe in der „Proto-Industrialisierung“ wurde zunächst zumeist im Verlagswesen betrieben.

Nach HENNING [11] prägte im 19. Jahrhundert das umfangreiche Textilgewerbe im sekundären Wirtschaftssektor das Bild des langsamen Überganges vom Verlag zur Industrie, einher gehend mit neuen Produktionstechniken (z.B. Wandel vom Handwebstuhl zum maschinellen Webstuhl, Einsatz von Spinnmaschinen).

Als zunächst bäuerliches Nebengewerbe entwickelte sich, neben der Garnspinnerei, auch die Leinenweberei in den Dörfern zwischen Weser und Leine von der häuslichen Selbstversorgung hin zur gewerblichen Leinwandproduktion für den überregionalen Markt, durch internationale Handelsbeziehungen für andere europäische Länder (England) und nach Übersee (Nordamerika, Westindien).

 

„Flachsrotten“ im Hellental

Im ersten Verarbeitungsschritt wurden die im Sommer geernteten und zu großen „Wasserbunden“ zusammengebundenen „leeren“ Flachsstengel, abhängig von der Wassertemperatur, über etwa eine Woche oder länger (um 9 Tage) geschichtet und mit Brettern oder Steinen beschwert in ein stehendes Gewässer - in „Flachsrotten“ - eingelegt.

Danach wurden die Flachsrotten geflutet, um die hölzernen Stengelanteile zur Gewinnung der Gespinstfasern verrotten zu lassen (Wasserrotte).

Die bei der Flachsrotte natürlicherweise durch Gärvorgänge entstehenden Gasbildungen, die außerordentlich üble Faulgerüche entwickelten, erforderten eine Anlage der Rottekuhlen außerhalb des Dorfes und - bei in der Regel vorherrschendem Westwind - westwärts der Wohnbebauung.

Zudem durfte aus hygienischen Gründen keine direkte Verbindung der Flachsrotten zu jenen Fließgewässern oder Quellen bestehen, die zur dörflichen Trink- und Brauchwasserversorgung herangezogen wurden.

In der Nähe von Hellental sind die ehemals zur dortigen Flachsgewinnung benötigten, etwa 1 Meter tiefen Flachsrotten heute nur noch als Reste alter „Rottekuhlen“ auszumachen.

 

Leinenweber

Seit dem Mittelalter zählte in Deutschland das Gewerbe der Leinenweber, nicht zuletzt aus zünftigen Interessen der Stadthandwerker, zu den „unehrlichen“ Berufen.

Um 1729 wurde es schließlich erforderlich, herzoglich zu verordnen, künftig die Leinenweber für ehrliche Leute zu halten.

„Niemand sollte sie wegen ihres Handwerkes schmähen oder beschimpfen oder von ihnen fordern, dass sie, wie es hie und da vorkam, bei Hinrichtung von Verbrechern die Leiter zum Galgen zu tragen hätten“.

1766 wurden die Leinenweber schließlich vom Gildezwang befreit und auf dem Lande konnten die Meister ohne besondere Gestattung, Lehrjungen und Gesellen beschäftigen.[9]

 

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[1] JARCK/SCHILDT 2000; HENNING 1989.

[2] KAUFHOLD 1983, S. 217.

[3] ANDERS 2004, S. 258.

[4] ANDERS 2004, S. 260; MÄRZ/ZELL 2004, S. 85; BUSSE 2002, S. 15.

[5] HENZE 2004; JARCK/SCHILDT 2000; ALBRECHT 1995; HENNING 1989; KAUFHOLD 1983, S. 189 ff.; RAULS 1983, S. 133 ff.

[6] BUSSE 2002, S. 4.

[7] MÄRZ/ZELL 2004, S. 85, BUSSE 2002, S. 5 f.

[8] KIEFERT 2002, S. 31.

[9] RAULS 1983, S. 133.

[10] TACKE 1943, S. 20.

[11] HENNING 1989.

[12] STREICH 1996, S. 146-149.

[13] Blog-Artikel des Schweizerischen Nationalmuseums vom 20. Oktober 2023 von Barbara Basting, leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.