Junger Waldarbeiter mit „adeliger Seele“
Klaus A.E. Weber
Im "Walddorf Hellental" der 1920er Jahre
Ein mit Schreibmaschine geschriebenes Manuskript einer lettländisch-deutschen Dame beschreibt eindrucksvoll eine herbeigesehnte "stille Erholungszeit" zweier künstlerischer Frauen mit „Herrn Theodor“ im "Walddorf Hellental" des Spätherbstes der 1920er Jahre.
Die genaue Erstellungszeit der durchaus spannenden Abhandlung ist unbekannt und kann nur anhand von Einzelheiten der Schilderungen vermutet werden.[1]
"Es war im Herbst.
Ein strahlender, goldener Herbst.
Ich hatte Ferien, eine kurze Zeit nur, die ich irgendwo in tiefster Stille und völliger Ausspannung verbringen wollte.
Ich kam von einer großen, schönen Arbeit, die ich an der Seite des geistreichsten, vornehmsten Künstlers, den ich kannte, als seine Gehilfin voll mit gestalten durfte.
Es waren Monate, die ich durchlebte voll von überwältigend großer Arbeit, größter Konzentration und gleichsam elektrisch gespannter Atmosphäre, die der Große in seinem Reiche ausstrahlte, ungewollt und gewollt, die einen emporhob über den Alltag, die die mühevollste Arbeit zum Fest machen konnte, daß man sie spielend bewältigte, die aber auch verzehrend, ja vernichtend auf einen eindringen konnte, daß man sich gegen sie wehren mußte, damit man von ihr nicht zerstört wurde.
Höchste Höhen durchflog man, tiefste Tiefen durchmaß man an seiner Seite und konnte durch all das Herrliche und Erschreckende seine Seele nur durchdringen, wenn man sie täglich, stündlich immer wieder von der Kraft durchdringen ließ, die das Herz fest macht, und sie verankert hatte in Tiefen, an die kein Erdenstamm reichte.
Aber müde machte dieses Leben.
Ich wollte Ruhe, einfache Verhältnisse, einfache Menschen.
Ich wollte einfache Gedanken und nicht mehr über Lebensprobleme und dunkle Rätsel in der Menschenseele grübeln.
Eine liebe, junge Kollegin, die auch an der künstlerischen Arbeit teilgenommen hatte, begleitete mich.
Wir fuhren in den Solling.
Auf einer kleinen Station stieg ein junges Mädchen zu uns in das Abteil.
Wir kamen bald ins Gespräch.
Sie erzählte uns von einem Sommeraufenthalt im Solling, wo sie eben herkam.
Es war ein Walddorf "Hellental", das nur von Waldarbeitern bewohnt wurde.
Mehrere Stunden von der Eisenbahnstation entfernt, lag es im Sollinger Wald.
Im Sommer bot es bescheidenen Sommerfrischlern stille Erholungszeit.
Pensionen gab es keine, man lebte bei den Waldarbeitern, speiste in einem Wirtshaus zu Mittag, für das Übrige sorgte man selbst.
Das war ja das, was wir suchten.
Aber leider waren wir an der Station für "Hellental" schon vorbei gefahren.
Unsere Fahrkarten lauteten auf einen beliebigen Ort im Solling, von dem man zu Fuß einen hoch gelegenen Ort erreichen konnte, den wir uns als erstes Reiseziel ausersehen hatten.
Zuerst gehen wir dort hin, nachher können wir immer noch nach "Hellental", beschlossen wir.
Es war Nacht als wir die Eisenbahn verließen und nur mit unserem Rucksack den Weg zum Ort antraten.
Den Weg könne man nicht verfehlen, hieß es, und so wanderten wir dann einsam die fremde Straße entlang.
Es war fast taghell, so schön schien der Mond auf unseren Weg.
Die Luft war voll Tannenduft, ein Murmeln und Klingen von vielen Quellen und Bächen erfüllte die Stille.
Sonst hörte man nur das Auftreten unserer Wanderschuhe in dem tiefen Schweigen um uns.
Welch wundersames Wandern in den Silberwellen des Mondes in der wunderbaren Herbststille.
Aber immer noch lag quälend und ängstigend all das, was uns von den Menschen fortgetrieben hatte, in der Seele.
Wir brachten die Unrast des Lebens, die Qualen ungelöster Rätsel mit in den schweigenden Wald.
Und das alles redete lauter und quälender in den Frieden und die Stille, die uns umgab.
Und doch lag schon ein Ahnen hinter diesem Empfinden, daß "Natur" auch mich gesunden lassen würde.
Ein Wunder, eine Wohltat, die sie an so manchem vor mir getan hatte.
Da standen wir vor dem Gasthaus des Ortes.
Groß und prächtig stieg es vor uns aus dem Schweigen der Nacht.
Geschäftige Kellner empfingen uns.
Nach einem raschen Blick auf unsere bescheidenen Rucksäcke wurden wir eingeschätzt.
Wo unser Gepäck wäre?
"Ach so, die Damen reisen ohne Gepäck!"
- Ja, ein Zimmer sei noch vorhanden.
Wir wurden in den Speisesaal geführt.
Dort nehmen wir an einem Nebentisch Platz.
Die Gespräche verstummten für einen Augenblick, alle Blicke richteten sich auf uns.
Es war eine Champagner trinkende Gesellschaft, die an der Tafel saß.
Neugierige Blicke musterten, taxierten und klassifizierten uns und ließen sie fallen.
Keine interessanten Ankömmlinge, die etwas versprachen.
Mir war das alles eine Pein, und verlockend stieg vor meinen Augen das stille Waldtal hervor.
"Morgen gehen wir nach "Hellental" entschied ich, und dieser Entschluß machte mir die Seele frei und leicht.
Ein Ruhetag, danach fand uns ein goldner und stiller Herbsttag mit Rucksack und Wanderstab auf dem Weg nach Hellental.
Es sei eine bequeme Tagestour bis Hellental hieß es.
Abends, vor Einbrechen der Dunkelheit seien wir bestimmt dort.
Und so wanderten wir dann frohen Mutes durch den Wald.
Eine goldene, strahlende Welt war es, durch die unsere Wanderschritte uns führten.
Bergauf, bergab ging es, schmale Pfade durchwateten wir, über raschelndes Laub gingen wir, durch dunkle Tannen und lichte Buchenwälder führte unser Weg.
Zwischendurch ging unser Blick über die weiten Meere der Wälder, durch die, wie dunkle Fahnen, ernste Tannen wehten, über schimmernde Ebenen hin.
Oft wollte man gar nicht weiter gehen, so schön und voll lichten Friedens war der Anblick.
Dazu der kräftige Herbstduft nach Tannen, Laub, Erde, verwelkten Kräutern, und über allem die Sonne, golden, still und so ruhig wie Menschen lächeln können, die ein schönes friedvolles Alter erreicht haben.
Alle Pein und Qual der letzten Monate fiel von mir ab in dieser tiefen Einsamkeit und Stille.
Hatte man die Unrast nur geträumt, oder träumte man eben?
- Doch still, nur nichts wecken, nur so weiter wandern, so still und wunschlos.
Ländliche Wirtshäuser lockten zur Einkehr.
Meine junge Gefährtin trieb zur Eile, der Abend würde uns hier in der Einsamkeit überraschen.
So war es dann auch.
Die Dämmerung brach herein, wir sahen weit und breit nichts von einer menschlichen Behausung.
War der Weg auch richtig?
Der Himmel bewölkte sich und ein feiner, kalter Regen drang durch unsere Kleidung und durchnäßte sie.
Eine empfindliche Kälte durchdrang uns.
Der Weg war fast ungehbar.
Wir faßten uns fest an den Händen, um auf dem abschüssigen Pfad nicht zu stürzen.
Es war ganz dunkel geworden.
- Da, - Stimmen aus der Tiefe!
"Gott sei Dank!"
Dort mußte ein Weg sein.
Wir riefen laut in die Dunkelheit hinein:
"Wo geht der Weg nach Hellental?"
Eine Männerstimme antwortete:
"Es ist schon richtig, das Dorf ist nicht mehr weit.
Kommen sie nur herunter, der Weg führt auf die Landstraße!"
- Das gab uns Verzagten neuen Mut.
Wir stolperten und rutschten den Pfad hinunter.
Endlich fanden unsere Füße einen guten, sicheren Weg.
- Die Stimme, die uns vorher geantwortet hatte, tönte dicht neben uns aus der Dunkelheit:
"Ich habe auf Sie gewartet, um Sie zu begleiten.
Ich dachte, Sie würden sich fürchten.
Ich bin Hellentaler und gehe denselben Weg."
In der Finsternis konnten wir nur flüchtige Umrisse einer hohen Gestalt erkennen.
Die Stimme, die zu uns gesprochen hatte, war die eines jungen Mannes.
Wir grüßten und schlossen uns ihm an.
Er erzählte, er sei Waldarbeiter, er hätte sich heute beim Holz schlagen verspätet, das sei heute aber doch gut gewesen, so hätte er uns helfen können.
Seine Stimme hatte einen seltsamen, ruhigen, dunklen Klang.
Seine Sprechweise war zurückhaltend und gebildet.
Bei einer Biegung des Weges sahen wir die Lichter von Hellental vor uns.
"Haben Sie schon eine Unterkunft?" fragte uns unser Begleiter.
Nein, ob er uns vielleicht ein Haus nennen könne, wir würden gern bei einem von den Waldarbeitern für eine Weile wohnen.
- Er schwieg zuerst, dann sagte er zögernd:
"Meine Mutter vermietet Zimmer, die sind frei.
Vielleicht sehen sie sich unser Häuschen einmal an, sauber ist es!"
- "Das trifft sich gut", riefen wir, "aber wird Ihre Mutter auch so nasse Gäste in ihrer sauberen Stube aufnehmen wollen?"
Er lachte:
"Mutter wird sich freuen, sie wird für trockene Kleidung und Abendbrot sorgen."
Sagte er fröhlich.
"Das versteht sie!"
Er wurde ganz zutraulich, als gehörten wir schon zu seinem Heim.
Er erzählte, sein Vater sei Vorarbeiter bei dem Verband der Waldarbeiter, der immer aus 12 Mann besteht.
Er sprach von seiner Arbeit mit Stolz:
"Die Arbeit muß man verstehen, die kann kein Ungeübter ausführen!"
Er lebe mit seinen alten Eltern.
Tagsüber sei er mit dem Vater im Walde, die Mutter sorge daheim für das Haus.
Er heiße Theodor, derer gäbe es viele im Dorfe.
Es sei eine alteingesessene Familie.
So plaudernd hatten wir das Dörfchen Hellental erreicht.
Im Scheine der Lichter sahen wir unseren Begleiter deutlicher.
Er war groß und schlank, über der Schulter trug er seine Axt.
Kraftvoll und elastisch war sein Gang.
Er hatte die Ausdrucksweise eines Gebildeten.
Leicht schritt er neben uns her.
Das sollte ein Waldarbeiter sein?
Nun blieb er vor einem sauberen Haus stehen.
Zwei Bäume säumten den Eingang.
Neben der Haustür stand eine Bank.
Er öffnete hastig die Tür, die auf einen dunklen Flur führte.
"Mutter, Mutter!" rief er.
Die Tür zur Küche öffnete sich.
Ein kleines, altes Frauchen mit einem erschrockenen Gesicht erschien auf dem Flur.
Sie hielt eine Petroleumlampe in der einen Hand, die sie sorgfältig mit der anderen Hand gegen den Luftzug schützte.
"Um Gottes Willen, Theodor, was ist los?"
Er nahm ihr die Lampe aus der Hand und sagt hastig:
"Da sind zwei Damen, die Du aufnehmen möchtest.
Sie sind ganz naß und frieren.
Schnell, Mutter, trockene Sachen und etwas Warmes zum Essen!"
- Das war der Mutter so unerwartet gekommen; sie sah uns ganz erschrocken an!
Wir traten näher.
"Erschrecken Sie nicht", sagte ich, "wir hatten uns verirrt, ihr Sohn traf uns und führte uns zu Ihnen.
Wollen Sie uns für eine Weile aufnehmen?"
- Da kam Leben und Bewegung in die kleine erschrockene Person.
Eifrig führte sie uns in die Wohnstube und öffnete uns nebenan ein Zimmer mit zwei sauberen hoch getürmten Federbetten.
Sie stellte die Lampe auf einen runden Tisch mit weißer gehäkelter Decke und verschwand eilig.
Wir wagten es nicht, uns in unseren nassen Kleidern nieder zu setzen.
So fand uns die Frau noch lachend im Zimmer stehen, wie sie uns verlassen hatte.
Die Nässe unserer Kleider war in kleinen Pfützen auf die saubere Diele geflossen.
Das Mütterchen hatte den Arm voll Kleider und Wäsche.
Eifrig breitete sie alles vor uns aus.
Es wäre ihr Zeug, sagte sie.
Eine warme Jacke und einen Rock für jede von uns und warme Pantoffeln von ihrem Mann und dem Theodor.
Wir sollten uns nur trocken ankleiden, unterdessen wolle sie die Abendsuppe aufs Feuer stellen, sagte sie, und die beiden Stuben sollten wir haben.
In dieser, die eigentlich die Putzstube sei, stünden Theodors Sachen und seine Bücher.
Sie trat an ein großes Bücherregal.
"Alle diese Bücher hat der Theodor gelesen," sagte sie stolz,
"Da ist auch der Faust von Goethe, und vom Immermann der Münchhausen, den Faust nimmt er sonntags mit in den Wald und liest ihn.
Er sagt, das sei so schön wie ein Gottesdienst.
Wenn er daheim ist, liest er nur, man bekommt ihn abends kaum ins Bett."
- Ihr kleines runzeliges Gesicht strahlte vor Stolz.
Man hatte das Gefühl, sie hätte uns noch unendlich viel erzählen können.
Sie brach erschrocken ab:
"Die Suppe, was schwatze ich da!".
Eilig lief sie in die Küche.
Wir kleideten uns um und sahen uns dann lachend an.
Abenteuerlich genug sahen wir in den dicken Wolljacken und kurzen Röcken aus.
Nun noch die wollenen Strümpfe an die kalten Füße und dann hinein in die gefütterten Pantoffeln.
Es erfüllte uns mit Behagen.
Das war doch ein Erlebnis, wie wir es uns wünschten.
Wir schlurften in unseren großen Schuhen durchs Zimmer, das sauber und behaglich war.
Sogar einen alten Lehnstuhl gab es am Fenster.
Ich nahm die Lampe und beleuchtete das Bücherregal.
Es war eine gute Gesellschaft, die dort versammelt war.
Die Klassiker in hübschen Einbänden.
Ja, wirklich; der Münchhausen und noch viele gute Freunde, die uns wohlbekannt waren.
Also daher die gebildete fast vornehme Sprache unseres jungen Begleiters.
Wir öffneten leise die Küchentür.
Es war ein liebliches Bild, das wir dort am Herdfeuer erblickten.
Auf der Ofenbank saß der Vater.
Eine würdige Gestalt mit grauem Bart.
Am Herd das eifrige Mütterchen, an der Tür lehnte der Sohn, hoch und schlank, noch sehr jung, mit einem schmalen Gesicht und dichtem über die Stirn fallendem Lockenhaar und ernsthaft blickenden Augen.
Das Gespräch verstummte bei unserem Eintritt.
Sie hatten wohl von uns gesprochen.
Ein Lachen lag in den Augen des Vaters, der auf uns zukam, um uns zu begrüßen.
"Sicher sehen wir merkwürdig aus", sagte ich "aber es ist sehr schön warm.
Wir möchten nur um einen Platz am Ofen bitten, bis wir unsere Suppe bekommen!"
Dann saßen wir behaglich beim Vater auf der Ofenbank und erzählten woher wir kamen und wer wir sind, daß wir uns auf die stille Zeit in ihrem Dörfchen freuten.
Vertrauensvoll erzählten uns die Alten nun auch von ihrem Leben.
Der Sohn lehnte an der Tür, und wenn ich aufschaute, begegnete ich seinem forschenden Blick.
Schöne stille Tage kamen nun für uns.
Fremde gab es keine mehr im Dörfchen, und neugierige Blicke folgten uns, wenn wir durch die Dorfstraße wanderten.
Wunderschöne stille Wege durch den Herbstwald sind wir gegangen, über die Landstraße, an Dörfern und einsamen Häusern vorbei.
An der Kreuzung von Schießhaus nach Schorborn ein alter Fichtenbestand, der dem Naturfreund immer wieder Freude macht und erfrischend auf Herz und Lunge wirkt.
Weiter zur Höhe der Landstraße Hellental-Schießhaus-Silberborn kreuzt ein Reh bei einer Wildfütterung den Weg.
An der Fütterung sehen wir noch einige Stücke Kahlwild abziehen.
Auf der Höhe stehen die hohen Fichten im Silberglanz des Rauhreifes.
Ein einmalig schönes Bild.
Die hohen alten Bäume sind wie überzuckert, wie im Märchenland der Kinderzeit.
So hat der Winterwald seinen, wenn auch vergänglichen, Reiz.
Nun führt der Weg durch den Bruch, östlich von "Wedenborn", dem Quellgebiet der "Dürren Holzminde".
- Da, wir halten den Schritt - auf der Blöße ein stattlicher Hirsch - äst hier und dort an einem Fichtenschößling oder am Heidelbeerstrauch.
Der Wind steht günstig, so bemerkt er uns nicht.
Über uns ein Grünspecht, sein Ruf warnt den unbesorgten "König des Sollings", er wirft den Kopf hoch und geht dann langsam auf die Fichtenschonung zu.
Weiter geht unser Weg zum Wegekreuz „Schießhaus-Neuhaus-Wedenborn-Hellental."
Kein Laut stört die sonntägliche Ruhe, außer einigen Vogelstimmen, die vom Leben im Wald kündigen.
Nach einigen Schritten stehen wir an einem der großen Kahlschläge der Nachkriegszeit, die dem Solling soviel Naturschönheit nehmen, und den Forstmann vor große Aufgaben stellt.
Der auf der Höhe herrschende Wind treibt uns in den Jungfichten-Bestand und läßt uns unseren Weg geschützt fortsetzen.
Bald lichtet es sich vor uns.
In Höhe der Wolfskuhle sehen wir zu unserem Bedauern, daß der alte Buchenbestand den Weg allen Nutzholzes gegangen ist.
Nur eine große Kahle Fläche blieb zurück, wo einst Wölfe ihren Unterschlupf im Solling hatten.
Diesen trostlosen Anblick des "Deutschen Waldes" lassen wir hinter uns und biegen rechts ab in Richtung "Petersilienplacken".
Wenig später erreichen wir die vom "Vogelherd" nach Hellental führenden Wege.
Auch hier hört man keinen Laut der menschlichen Gesellschaft.
Fernab ertönt Glockengeläut und erinnert die Wanderinnen an ihren wartenden Mittagstisch.
Munter wandern wir weiter oberhalb des von "Hermann Löns" so oft beschriebenen Tales der Lieder.
- "Weißt Du noch wo Hellental liegt?
Hellental liegt am Berge, wo die schönen Mädels sind und die vielen Berge" -
Bald schon gibt der junge Buchenbestand, in dem die ordnende Hand des Forstmannes zu erkennen ist, den Blick frei auf die schon 1717 erwähnte Waldarbeiterssiedlung "Hellental".
Ein kalter Wind weht von der Dasseler Höhe herüber, als wir in die Feldmark kommen.
Nun nimmt uns das am Steilhang gelegene Dörfchen wieder auf.
Ein anschließender Rundgang durch das Dorf bringt Gelegenheit, Erinnerungen an frühere Zeiten wachzurufen.
Wir erfahren dabei, daß die ursprünglich in Hellental eingerichtete Glashütte später nach Schorborn verlegt wurde.
Erzählungen von Hermann Löns wurden aufgefrischt, der oft in Hellental geweilt hatte.
Der Abend fand uns wieder auf der Ofenbank im Gespräch mit unseren Wirtsleuten.
Wieviel ruhige Lebensweisheit und klares Nachdenken über das Leben kamen da in schlichten Worten von den Lippen des alten Waldarbeiters, der soviel Zeit zum Denken hatte.
Der Sohn war viel zurückhaltender als seine Eltern.
Aber wenn das Gespräch eine Wendung nahm auf Gebiete, die ihn interessierten, und Fragen, die ihn beschäftigten, dann sprudelten die Worte fast hastig aus ihm heraus, wie aus der Seele eines Menschen, der stark nach innen lebt und es nicht gewohnt ist, sich anderen mitzuteilen.
Seine Mutter wollte so gern ihren Stolz zeigen:
"Theodor, erzähl doch den Damen, was Du alles gelesen hast!"
- Es flammte über sein Gesicht:
"Aber, Mutter!"
Er wies sie zurück und verschloß sich den ganzen Abend.
Redselig wurde er, wenn man über den Wald sprach.
Wir äußerten einmal den Wunsch, Ihn und seinen Vater bei der Waldarbeit zu besuchen.
Mit Freude ergriff "Herr Theodor", wie wir ihn im Scherz nannten, diesen Plan.
Er arbeitete tief im Wald, nur kleine Fußpfade führten zu seinem Arbeitsplatz.
Er würde kleine Zeitungsstücke an die Bäume stecken, an den Stellen, wo sich die Pfade kreuzten, so daß wir sicher den Weg finden würden.
Voll Eifer besprach er mit der Mutter, was sie uns zum Frühstück in den Rucksack packen sollte.
"Den Kaffee kochen wir für Sie am Feuer!"
Wir trennten uns mit einem "Auf Wiedersehen im Wald!"
Der Weg, den wir bald antraten, führte uns über die Feldmark nordwestlich zum Dohnenstieg und dann die "Trift" zum Großen Ahrensberg, die zweit höchste Erhebung nach der "Großen Blöße" im Solling.
Ein Blick zurück in Richtung Braak/Stadtoldendorf zeigt das nordöstliche Gebiet des Sollings mit all seinem Reichtum an Wäldern und Siedlungen.
Rehe vor uns und einige Wildfährten zeugen vom Leben im spät herbstlichen Wald.
Im Fichtenhochwald haben die Schwarzkittel frisch gebrochen und beweisen, wie notwendig das wiederhergestellte Wildgatter ist.
Frohe Gespräche verkürzen die Zeit beim Wandern.
Ein vor uns den Weg kreuzender Fuchs gibt Anregung zum Austausch von Gedanken. Wir waren früh am Tag gestartet. Fröstelnd wanderten wir in den kalten Herbstmorgen, aber die Sonne war schon aufgegangen, sie beleuchtete den Wald golden. Ein schöner lichter Tag lag vor uns.
Wir hatten im Rucksack unser Frühstück, Käse, Kaffee und eine kleine Kanne zum Kaffee kochen.
Vor uns flatterte eine Zeitung weit sichtbar wie eine Fahne, die auf einen Ast aufgespießt war.
Herrn Theodors Zeichen.
Mehrere Stunden wanderten wir so durch den herrlichen Wald.
An jeder Biegung oder Wegkreuzung führte uns Theodors Zeichen und wir konnten mit Sicherheit unseren Weg finden.
Dann vernahmen wir dumpf aus der Ferne Holzschläge.
Wir riefen laut durch den Wald.
Mehrere Stimmen antworteten uns.
Wir sehen zwischen den Baumstämmen den ersten Waldarbeiter, er schwenkt seine Mütze.
"Wir warten schon eine Weile auf Sie!" rief er.
Bald waren wir an der Stelle, wo die Arbeiter Mittagsrast hielten.
Es war eine kleine Lichtung, in deren Mitte ein großer flacher Stein lag, auf dem ein mächtiges Holzfeuer brannte.
Ein dicker Baumstamm mit einem aus Tannenzweigen geflochtenem Dach stand dicht am Feuer.
Zwei umgedrehte Baumwurzeln waren in die Nähe das Feuers geschoben und sorgfältig mit den Jacken der Arbeiter bedeckt, sie bildeten so prächtige Lehnstühle für uns.
"Vater" hieß uns willkommen.
Theodor nahm uns unsere Rucksäcke ab.
Wir mußten uns in die bequemen "Lehnstühle" setzen.
Im Walde fühlte sich Theodor frei, er plauderte und lachte.
Er sorgte für uns, als wäre es selbstverständlich.
"Sie werden nun so frühstücken, wie wir Waldarbeiter", sagte er lebhaft.
Ein Zeichen mit einem Holzklöppel an den Baum geschlagen, hallte durch den Wald und rief die Arbeiter zum Frühstück.
Sie kamen und grüßten uns befangen.
Sahen sich unentschlossen an und setzen sich dann schweigend auf den Baumstamm.
Einer der Arbeiter fegte die verloschene Glut auf dem Stein zusammen, ein anderer holte Wasser.
Jeder brachte seine Kanne oder Blechkrug hervor, streute Salz und Kaffee hinein und goß mit heißem Wasser auf.
Danach setzte er es auf den erhitzen Stein.
Herr Theodor füllte unsere Krüge und setzte sie aufs Feuer, achtete darauf, daß der Kaffee nicht überkochte.
Wir versuchten, mit den Waldarbeitern ins Gespräch zu kommen.
Es gelang uns nicht.
Steif und verlegen drängten sie sich auf dem Baumstamm zusammen und wagten kaum, sich zu rühren.
Wie ein verkleideter Prinz wirkte dagegen Herr Theodor, der sich mit ruhiger Sicherheit bewegte.
Als die Arbeiter sahen, daß wir unser Brot und unseren Käse und Wurst aus dem Rucksack holten, und unseren Kaffee ebenso tranken wie sie, wurden sie vertrauter.
Schokolade, die wir mitgebracht hatten und unter den Arbeitern verteilten, öffnete die Herzen.
Sie fingen an zu fragen, wir erzählten, von wo wir kamen.
Schwaben - die Heimat meiner jungen Freundin -, davon wußten sie.
Livland/Lettland, meine Heimat, war ihnen völlig unbekannt.
Ich erzählte von meiner lieben Heimat, die einstmals von deutschen Rittern erobert wurde.
Ich erzählte von all den Kämpfen, die um unser Land wüteten, wie wir von Deutschland verlassen und von einer fremden Hand in die andere gewandert waren, bis uns zuletzt Russland bekommen hatte.
Durch all die Jahre waren unsere Herzen deutsch geblieben, so deutsch, wie nur das Herz eines Waldarbeiters sein könne.
Ich erzählte auch von den furchtbaren Revolutionszeiten, die 1905 unser Land verwüstet hatten.
Die Zeiten lagen noch nicht weit zurück.
Unterdessen war unser Frühstück beendet.
Die Männer hatten eine Bitte:
"Ob ich wohl ein russisches Lied singen könnte?"
Ich sang, was mir einfiel, russisch, lettisch, estnisch.
Meine Gefährtin sang schwäbisch Lieder.
Unsere Zuhörer waren begeistert.
Theodors Vater erhob sich:
„Heute ist ein Feiertag, noch nie haben wir Waldarbeiter einen solchen Tag in unserem Walde erlebt, noch nie haben uns Damen besucht.
Dürfen wir Ihnen zum Dank ein Waldlied singen?"
Und es erklang ein Lied zum Lobe des Waldes, rau klang es in die Baumwipfel hinauf.
Es folgte das nächste Lied, sie wollten gar nicht aufhören.
Wir stießen mit unseren Kaffeekrügen mit ihnen an:
„Es lebe der Wald und all seine Waldarbeiter!"
Nun wollten wir uns verabschieden.
Theodor begleitete uns, er sollte uns die schönsten Fernblicke zeigen, so bestimmte es der Vater.
Alle derben Arbeiterfäuste streckten sich uns zum Abschied entgegen:
„Solch einen Tag hatten wir noch nie hier im Walde", sagten sie, und unter fröhlichen Zurufen tauchten wir im Waldschatten unter.
Bald hörten wir die Axtschläge sehr entfernt, die die Stille des Waldes unterbrachen.
Neben uns auf den schmalen Waldwegen schritt unser junger Begleiter.
Vorsorglich bog er die Tannenzweige zur Seite, damit sie uns nicht streiften.
Sein dunkles Gesicht leuchtete voll Leben und Freude.
Wie auf Federn war sein Gang, lebendig war seine Rede.
Was er alles zu erzählen und zu fragen hatte!
Über den Faust, über Eichendorff, über den Wald und über das Leben draußen in der Welt.
Von seinem stillen Träumen erzählte er, von seinen Sonntagen, wo seine schönste Freude darin bestände, mit dem Faust im Moose zu liegen und über all das Wunderbare nachzudenken, das dort geschrieben stehe.
Er zeigte uns seine Lieblingswege, tief verborgen, stille Schattenwege und wundervolle Blicke weit ins Land hinein.
An solch einer Stelle fragte ich ihn unvermittelt:
"Möchten Sie immer hier bleiben?"
Seine Stirn rötete sich, erschrocken sah er mich an.
Doch er schwieg.
Ein Lied ging mir durch den Sinn: „Störe nicht den leisen Schlummer, des, den ein Lied im Traum umfangen... Still in seinem Traum versunken, geht er über Abgrundtiefen. Weh den Lippen, die ihn riefen!"
Als wir das Dörfchen vor uns liegen sahen, nahm er Abschied von uns.
Ich ging ihm in Gedanken nach, wie seine Gestalt zwischen den Bäumen verschwand.
Wohin wird sein Weg ihn einmal führen?
Nun zurück zur Wolfskuhle.
Ein guter Platz ist diese Lichtung.
Im Süden der Hellentaler Berg, im Osten und auf dem abfallenden Nordhang schützt dichtes Gebüsch gegen einen anschleichenden Feind.
Nur westlich aus dem dunklen gemischten Wald und Moor kann eine Gefahr kommen.
Dort wo aus dem schwarzen Schatten des Hochwaldes Büsche und hohe Farngruppen weit in die Wiese noch hineinspringen.
Sonst aber ist hier ein sicherer Standplatz für das Edelwild.
Saftig ist das Gras, frisch das Wasser des Baches.
Hier haben sie sich auch alle zusammengefunden, die sonst so getrennt gehen.
Die Haupthirsche, Alttiere, Spießer und Schmaltiere, wenn sie auch getrennt in Rudeln stehen.
Vier Kapitale sichern gegen den gefährlichen Westen.
Immer wieder wendet der eine oder andere den Kopf dem dunklen Wald zu; ihre Seher tasten die Schatten der Farne und Büsche aufmerksam ab und ihr Gehör unter dem stolzen, starken Geweih spielt dabei.
Am nördlichen Dickicht zieht ein starkes Rudel junger Hirsche.
In der Mitte der Lichtung, nahe dem flachen Bach, äsen die 'Tiere.
Ein Bild des Friedens, ein Bild gesicherter Ruhe, dieses edle Wild auf der Waldwiese unter dem lichten Schein des Mondes.
Aber oben am Hang, im Schatten der höheren Kuppe und dann abwärts, gleitet ein grauer Körper im Mondlicht, windet sich näher und näher der Halde zu.
Vorsichtig, damit kein Stein unter ihr rolle, tastet die schwere Pranke jeden Stützpunkt erst ab.
Vorsichtig wahrt die Wölfin ihre einsenharten Krallen, damit sie nicht an einen Stein stoßen und knirschen.
Grün schimmernde Augen schätzen sorgfältig die Entfernung von Deckung zu Deckung ab.
Doch die letzte Anhöhe ist jetzt erreicht.
Das Steinfeld verschwindet hier unter einem fußdicken Teppich glatten Mooses.
Sehr weit aber ist es noch bis zur sicheren Beute dort unten.
Viele, zu viele Sprünge!
- Nur auf ein geringes Tier hätte die Wölfin Aussicht, bräche sie von hier herab.
Dort unten im Walde, von wo sie sich mühsam und lautlos im Bogen bis hier gepirscht hat, warten zwei sehr hungrige und immer maunzende Junge.
Käme sie doch unbemerkt bis zu dem versprengten großen Felsstein, so könnte sie wohl ein feistes Alttier mit vier bis fünf Sätzen erreichen.
Aber glatt glänzend liegt der Wasserspiegel des Baches zwischen ihr und dem Farn.
Ein einsames Wolkenkissen schiebt sich vor den Mond, im Wolkenschatten huscht ein schwerer Körper schlangengleich und wieselschnell zu dem meterhohen Fels.
Der Mond leuchtet wieder.
Ein leichtes, selbstzufriedenes und hoffnungsvolles Schlagen des Schwanzes, ein Spannen und Rucken der schweren Schultern.
Da treten die Haupthirsche unruhig mit den Vorderläufen, winden und wittern zum Wald hinüber, der Stärkste, ein ganz weißer Vierzehnender, hebt seine schwarzen Lippen und pfeift ganz wie ein Mensch.
Auch die Wölfin hört es drüben an der Grenze des Waldes und des Dickichts knacken, sieht, daß sich das Rudel bewegt.
Da flüchten die Hirsche, die Gabler zuerst, dann die Alttiere, die Spießer und die erschreckten Kälber!
Sollte ihre mühsame Pirsch ganz umsonst gewesen sein?
Sollen die Jungen nicht hungern, muß die Wölfin jetzt springen!
Wie ein gespannter, losgelassener Bogenpfeil fällt die Wölfin dem flüchtigen Rudel in die Flanke!
Den großen "Weißen" verfehlt sie, der springt in ungeheuren Sätzen als einziger den Hang zur Kuppe hinauf.
Mit dem nächsten Sprung wirft sich die Wölfin mitten hinein in das kopflose Rudel und ein Rottier bleibt unter ihr.
Ein Biss, ein Knirschen.
Schon steht die Wölfin wieder und sucht, ob noch eine Beute, ein Kalb vielleicht, erreichbar ist.
Prasselnd und krachend fällt das Rudel drüben in das Dickicht.
Vom Walde her ein Schatten, wie ein Hund groß, mit ungeschickten Sprüngen, er will die Hirsche noch erreichen.
Das ist der Rivale, der die Beute verscheuchte.
Die Wölfin faucht.
Mit zwei Sprüngen ist sie bei ihm.
Mit einem Prankenhieb bei eingezogenen Krallen erhält der allzu selbständige Wolfsknirps eine Maulschelle von mütterlicher Pranke.
Er trampelt mit den pummeligen Beinen und blökt wie ein Lamm unter dem bösen Mutterblick.
Unsicher und breitbeinig steht der junge Wolf und faucht als angehender Herr des Waldes hinter seiner Mutter her.
Nicht sehr laut, nur gerade so, daß er wieder ein wenig Selbstachtung erhält.
Die Schwester war gehorsamer als der Bruder, sie hatte sich vom Bruder nicht verführen lassen.
Weil es zu lange dauerte, war sie der Mutter nachgetrottet.
Die Alte bricht ihre Beute am Bauch auf, reißt das Eingeweide heraus und schleudert es ihren Sprößlingen zu.
Knurrend und schmatzend machen sie sich über die Därme her.
Die besten Leckerbissen für ihre Kinder, die Alte begnügt sich mit den Rippen und Lenden.
Wieder scheint der Mond auf die Wiese.
Wenn auch keine friedliche, so doch eine zufriedene Familienidylle.
Da dröhnt von Südosten ein grollendes Rollen.
Die Wölfin knurrt auf, eine Rippe zerkracht noch im gewaltigen Fang, sie würgt den Bissen hinunter.
Hastig fährt die raue Zunge über Maul und Pfote.
Sie leckt auch die Jungen, die die Eingeweide verschlungen haben und schmatzend das glibberige Blut schlürften.
Sie fordert ihre Kinder auf sanfte Art auf, ihr zu folgen.
Doch im Rausch des Fressens knurren diese sie an.
Da dröhnt es wieder.
Er kommt, weiß die Wölfin.
Der große bösartige Kerl, sehr satt muß er sein, oder man hat ihn gestört, daß er so brüllt.
Sie müssen weg von hier, denn der Riese ist so blutgierig und wild, daß er selbst die schwächeren seiner Art nicht schont.
Ha-oo-ung !!
Er ist schon sehr nahe.
Da schleudert die Alte mit zwei Prankenhieben ihre Kinder fort von der Beute.
Als der kleine Lümmel trotzdem wieder fauchend an das blutige Fleisch will, drückt sie ihn mit ihrer Tatze an den Boden, packt ihn mit den Zähnen am Nackenfell und trägt den protestierenden Zwerg, gefolgt vom artigen Töchterchen dem Dunkel des Waldes zu, wo sie bald untergetaucht ist.
Auf dem Berge schreitet eine fast schwarze Silhouette gegen den mondlichten Himmel.
Ein ungeheurer Wolf.
Stark und regelmäßig ist sein Gang.
Er hält ein, reckt den Hals und den gewaltigen eckigen Schädel und gleicht einem Standbild.
Er brüllt gewaltig auf.
Nun kam der letzte Abend in Hellental.
Wir saßen beim Alten auf der Ofenbank.
Theodor fehlte.
"Er ist noch draußen!" sagte seine Mutter, "ich will mal nachsehen."
Sie ging hinaus.
Als sie wiederkam, stand sie verlegen in der Tür:
"Der Theodor hat eine Bitte, die Sterne sind ganz klar und Theodor möchte noch einmal mit den Damen in den Wald gehen!"
Wir traten vor die Tür.
Die funkelnden Sterne schauten auf uns herunter.
Es war still.
Kein Windhauch.
Eine dunkle Gestalt löste sich von einem der Bäume, an den er sich gelehnt hatte.
Es war Theodor, er war verlegen und schwieg.
"Sie wollen uns den Wald im Sternenlicht zeigen?
- Das ist schön!" sagte ich.
"Die Rufe der Hirsche sind heute Nacht zu hören, das hört man nicht oft. Vielleicht möchten die Damen es einmal hören!"
- Er ging neben uns, bald war alle Befangenheit von ihm abgefallen, er war frei und sicher, wie er immer war, wenn er durch den Wald schritt.
Er strich sich das Haar aus der Stirn und atmete tief.
"Gibt es eine solche Luft noch anderswo auf der Welt, wie hier bei uns?"
Ich sah, wie seine Augen leuchteten.
Er hatte seine Zurückhaltung aufgegeben.
Es gab so viel, was ihn bewegte, was nach Aussprache und Klärung verlangte.
Er hatte eine Frage auf dem Herzen, die ihm schon viel zum Denken gegeben hätte.
Ob ich auch an einen sechsten Sinn glaube, an eine Kraft, die in uns läge, noch unterentwickelt, aber stark im Unterbewußtsein wirkend.
Woher kämen sonst wohl Ahnungen, das Vorausfühlen von Ereignissen, das starke Persönlichkeitsgefühl, das uns doch ganz fremd gegenüberstände.
- Ich sagte ihm das bekannte Sprichwort" "Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt.
Ich glaube an viele unerklärliche Dinge zwischen Himmel und Erde."
- Es war ein seltsames Gespräch mit einem Waldarbeiter.
Und wie er neben mir ging in seiner jungen Kraft, bei aller Empfindung des erregten Gesprächs doch sorgfältig auf den Weg achtend, um jede Unebenheit zu vermeiden und die Tannenzweige zur Seite zu biegen, damit sie uns nicht streiften.
Beim Anstieg stutzte er.
Da war er wie ein Mann, der die beste Erziehung genossen hatte.
Ich dachte an ein kleines Wort von Stretton: "Adelige Seelen", in dem er vornehme Stellen in schlichtester Umgebung schildert.
Theodor war so eine "Adelige Seele" im Gewande eines einfachen Waldarbeiters.
Wir standen auf einer kleinen Höhe, die den Blick auf das vom Mond beschienen Land freigab.
Der Nachtwind strich leise über unsere Stirnen, es war still um uns.
- Da!
- Der Ruf eines Hirsches, dröhnend, erschreckend und erschütternd, dann wieder Stille.
Dann kam es von den Lippen und aus der Seele unseres Begleiters, als hätte der Brunftschrei des Hirsches etwas in ihm ausgelöst, das heraus mußte.
Ein stumm getragenes Sehnen.
Er wollte fort von hier, er wollte die Welt kennenlernen und in ihr wirken.
Seine alten Eltern, nun ja, es sei schwer sie zu verlassen, aber draußen sei da Leben, das wollte er sehen und miterleben, so wie es in seinen Büchern stände.
Seinen Anteil daran haben, das sei sein Recht, das könnte ihm niemand nehmen.
Reisen wollte er, fremde Länder sehen und über die Meere fahren.
Es brach aus ihm heraus, wie der Schrei des Hirsches, den wir eben gehört hatten.
"Gehen Sie ins Leben," sagte ich ergriffen, "tun Sie es.
Sie werden viel Schreckliches und viel Schönes vom Leben sehen.
Behalten Sie das Schöne in ihrer Seele!"
- Wir gingen schweigend heim.
An der Haustür sagte er uns Lebewohl und ganz einfach: „Ich danke Ihnen!"
Wir trennten uns.
Am nächsten Morgen, die Männer waren schon längst zur Arbeit in den Wald gegangen, brachte mir das Mütterchen ein kleines, ganz besonders schön gewachsenes Tannenbäumchen, es war in einen Blumentopf gepflanzt.
„Das hat der Theodor für Sie aus dem Wald gebracht, er bittet, daß Sie es mitnehmen zur Erinnerung an den Sollingwald." sagte sie.
Die Post führte uns zur Eisenbahnstation.
Trüb und herbstlich kalt war der Tag.
Fröstelnd wickelten wir uns in unsere Mäntel, in Gedanken versunken fuhren wir durch den noch gestern golden schimmernden Wald.
Ich hielt das Tannenbäumchen, Theodors Abschiedsgruß.
Nach Jahren erzählten mir Verwandte, die in Hellental gewesen waren, daß Theodors Eltern dort noch lebten.
Der Vater hatte seine Arbeit im Wald aufgegeben und sich eine Kanarienvogelzucht zugelegt.
Von ihrem Sohn sprachen sie mit leiser Bitterkeit.
Er war in die weite Welt gegangen und dort verschollen.
Sie hatten bis jetzt nichts von ihm gehört."
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[1] Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins für Heinade-Hellental-Merxhausen.