Sozialstruktur und Erwerbsquellen

Klaus A.E. Weber

 

Dörfliche Sozialhierarchie │ Landarbeit ist Handarbeit

 

Heinade mit landwirtschaftlichen Haupterwerbs- und Nebenerwerbsbetrieben um 1985 [12]

 

Arbeitsteilung im Dorf │ „Unterbäuerliche“ Schichten │ Dorfehrbarkeit │ Ländliche Armut

Vor den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts war das niedersächsische Dorf sozial nicht stark differenziert.[6]

Erst in Folge der durchgreifenden Agrarreformen entwickelte sich in den Dörfern eine ausgeprägte Arbeitsteilung, vergleichbar mit der von vorindustriellen Manufakturen des 18. Jahrhunderts.

Der Bauer arbeitete nunmehr unabhängig vom Prinzip des Flurzwanges und der Gemeinheitsnutzung.

Auch die Dorfbewohner von Heinade und Merxhausen waren künftig nur noch durch Arbeit und ihre Verteilung von einander abhängig.

Nachdem die Bauern die landgemeindlichen Selbstbestimmungsgewohnheiten verloren hatten, entwickelten sie neue Sonderrollen innerhalb des Dorfes.

Letztlich gediehen Vollbauern „von einer ihre Angelegenheiten selbstorganisierenden, widerständigen Gruppe innerhalb ihrer lokalen Verbände zu einer überlokal staatstragenden Mitbürgerschicht“.[7]

Brinksitzer, Anbauer, Abbauer und Häuslinge zählten zu der „unterbäuerlichen“, aber mit der Landwirtschaft verbundenen Schicht jüngerer Nachsiedlungsgruppen.

Eine ausführliche, aber ältere Darstellung dieser dörflichen Sozialschicht findet sich bei WÄCHTER [8].

Die „kleinen Leute“, nicht gemeindeberechtigte Kleinstellenbesitzer, wurden wichtig für ein Dorf, arbeiteten doch viele von ihnen nach und nach in einem Hauptberuf außerhalb der Landwirtschaft.

Sie behielten aber ein Stück Land, das ggf. von Bauern bewirtschaftet wurde.

Arbeitsdienst auf dem Bauernhof war dann die zu erbringende Gegenleistung.

Somit gab es zwischen den Dorfbewohnern auch weiterhin wechselseitige horizontale wie vertikale Arbeitsbeziehungen, wie sie sich im Prinzip auch für Heinade und Merxhausen annehmen lassen.

Kleinbauern behaupteten sich ökonomisch als dritte Gruppe.

Auch die Handwerker des hier betrachteten ländlichen Raumes zwischen nördlichem Solling und Holzberg arbeiteten zunächst für die „dörfliche und nachbardörfliche Nachfrage“.

Später verdienten einige von ihnen, abhängig von den Zuerwerbsquellen, auch außerhalb des Dorfes ihr Einkommen.

Mancher Dorfhandwerker ging auf Grund des Marktdruckes und der fehlenden Arbeit im Dorf einer Wanderarbeit nach, orientierte sich beruflich zur Stadt hin.[9]

Die unterbäuerlichen Schichten, die „ländliche Armut“ repräsentierend, umfassten in dem hier betrachteten Zeitraum im Wesentlichen drei Gruppen, zum einen Kleinstellenbesitzer und Landlose, zum anderen das freie und unfreie Gesinde auf Höfen und Gütern.

Diese Gruppen verfügten weder über eine politische Teilnahme noch über soziale Teilhaberechte (Ausschluss von der „Dorfehrbarkeit“).[10]

  • Kleinstellenbesitzer waren als eigene Klasse „Brinksitzer“, die entweder kein Ackerland, nur schlechteres Ackerland außerhalb der Dorfflur oder ein nur leihweise überlassenes Feldstück besaßen; lediglich ein kleines Gartenstück und eine Weideberechtigung. Brinksitzer waren keine vollberechtigten Mitglieder einer Dorfgemeinschaft. Sie gingen regelmäßig einem handwerklichen Nebenerwerb nach, u. a. als Drechsler, Hausschlachter, Schuster, Sägeschneider, Tagelöhner. Brinksitzer verfügten oft über ein eigenes Haus, die Fläche ihres Wiesenlandes betrug 1-5 Morgen.
  • Landlose waren „Häuslinge“, die in einem fremden Wohngebäude als „Mieter“ wohnten und als Tagelöhner in der Land- oder Gewerbewirtschaft ihrem kargen Einkommen nachgingen.
  • Auf Bauernhöfen gab es das freie, auf Herrengütern das unfreie Gesinde, das für Kost, Kleidung, Wohnung und ggf. für einen kleinen Jahreslohn beschäftigt war.

Eine ebenfalls typische ländliche Bevölkerungsschicht waren bei zunehmender Industrialisierung die Anbauer, die ohne eigenes Ackerland auf einen Zuerwerb angewiesen waren; in Hellental als Leinenweber, Waldarbeiter und als andere Landhandwerker.

 

Von der täglichen Landarbeit „kleiner Leute“ im 18. Jahrhundert

Den Berichten des Superintendenten Spohr von 1774 und 1775 ist nach RAULS [6] - sozialgeschichtlich richtungsweisend und anschaulich - auszugsweise zu entnehmen, wie sich die abhängige tagtägliche Landarbeit „kleiner Leute“ in der hiesigen Region gestaltete.

In folgender Weise wurde das Korn auf der Dähle im gleichmäßigen Takt der Dreschflegel gedroschen:

"Die Drescher fangen des Nachts um zwölf Uhr an zu dreschen und trinken des morgens um 4 Uhr den Branntwein, jeder etwa für 4 Pfennig, und essen dazu Brot ohne Butter oder Käse, dreschen darauf bis 6 Uhr, alsdann essen sie Milchmus von saurer Milch nebst Brot und Butter, mittags warmes Essen nebst Brot, Butter und Käse und des abends wieder warmes Essen wie des mittags."

Zum allgemeinen Tagesablauf von Ackerknechten und Mägden vermerkte Superintendent Spohr in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts:

"Der Knecht muß morgens ohnfehlbar um 3 Uhr aufstehn und den Pferden zum ersten Mal Futter geben. Füttert er Rauhfutter oder Korn, wie es gewachsen ist, so muß er um 4 Uhr anfangen, Futter zu schneiden, und zwar so kurz als möglich ist, und um die gleiche Zeit den ihm untergebenen Jungen wecken, daß solcher tüchtig die Pferde putzt.

Um 5 Uhr muß er tränken und aufschirren, zwischen 5 Uhr und 6 Uhr das Frühstück essen, damit es pcto. 6 aus dem Stalle geht.

Ist es in der Sommer-Saatzeit, und man tut 3 Spann (Anm.: Spann = mit dem Gespann zur Arbeit ausziehen), so muß der Junge bis um 12 Uhr des Nachts füttern, alsdann den Knecht wecken, und der Junge legt sich hin bis ½3 Uhr.

Hierauf weckt der Knecht den Jungen, und es geht puncto 3 Uhr aus dem Stalle, bleiben aus bis 7 Uhr, als dann wird das Morgenbrot gegessen bis gegen 8 Uhr.

Dann wieder heraus bis 11 Uhr. Alsdann wird Mittag gemacht bis 1 Uhr.

Unter dieser Zeit muß der Junge den Stall misten. Um 1 Uhr wieder heraus und um 6 Uhr zu Haus.

Eine Küchenmagd darf sich niemals hinlegen, bis das Gemüse auf den folgenden Tag reingemacht ist.

Eine Kuhmagd muß zu ihrer sonstigen Arbeit 3 Löppe Garn des Winters spinnen, auch um 3 Uhr aufstehen."

Auf der Basis des vorherrschenden Naturpotentials und der daraus erzeugten Wertschöpfung war die Landwirtschaft bis weit in das 19. Jahrhundert hinein der wichtigste Erwerbszweig im niedersächsischen Raum, wie auch in den hier kleinräumig betrachteten, agrarisch strukturierten spätmittelalterlichen Dörfern zwischen nördlichem Sollingrand und Holzberg.

Dass die in der Dorfregion um Heinade, Hellental und Merxhausen arbeitenden und wirtschaftenden Menschen in ihrem Handeln einst von der dominierenden Natur, insbesondere aber vom Wetter und Klima, abhängig waren, lässt sich noch heute gerade bei älteren Bewohnern in den Dörfern beobachten.

Für sie hat die Beobachtung und Prognose der Wetterlage nach wie vor einen besonderen Stellenwert in ihrem alltäglichen Verhalten.

Das Alltagsleben in den Dörfern dürfte in der Regel wenig abwechslungsreich gewesen sein, ohne besondere spektakuläre oder abenteuerliche Episoden.

Die noch in der frühen Neuzeit allgemein vorherrschende agrarische Wirtschaftsform der Einheit von „Produktion“ und „Konsum“ zur Erhaltung der Selbstversorgung bzw. zur unmittelbaren Deckung des häuslichen Eigenbedarfs bei geringer Arbeitsteilung (ohne also vornehmlich für den Markt zu produzieren) wird als Subsistenzwirtschaft bezeichnet.

 

Landwirtschaft, ländliches Handwerk und gewerbliche Arbeit

Während der Epoche des Mittelalters wurde das Alltagsleben der „gemeinen Menschen“ vermutlich hauptsächlich geprägt von der anhaltenden Agrardepression, von Missernten, Viehsterben, Hungerkrisen und Not, von Kriegen, Seuchen und anderen epidemischen Krankheiten und nicht zuletzt vom allgegenwärtigen Tod.

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung führte zunächst zu einer Abnahme der Bevölkerung.

Als Folge davon kam es in jungen südniedersächsischen Rodungsgebieten zur Aufgabe vieler Ortschaften.

Im Herzogtum Braunschweig wurden nach HOFFMANN [4] mehr als die Hälfte der Dörfer zu Wüstungen.[1]

Der Bevölkerungsrückgang und konsekutiv die rückläufige Nachfrage nach Agrarprodukten führte zu einem erheblichen Preisverfall, wodurch sich die Einkünfte der Bauern und Grundherren schmälerten.

Ein Teil der Bauern wanderte in andere Gebiete ab, als die Grundherren ihre Einkommensverluste durch die Erhöhung der bäuerlichen Abgaben auszugleichen versuchten.[2]

Die Größe eines Haushaltes, dem Mittelpunkt des ländlichen Wirtschaftens, überstieg im statistischen Mittel kaum vier Personen.

So früh wie möglich wurden Kinder in die Arbeitsprozesse einbezogen.

Die Erwachsenen arbeiteten meist bis ins höhere Alter und übergaben spät die Haushaltsführung an die jüngere Folgegeneration, die erst dann heiraten durfte.[3]

Nach HOFFMANN [5] war im niedersächsischen Raum die Mehrzahl der Bevölkerung nicht auf Marktbeziehungen angewiesen, da sie „über eine eigene, wenn auch bescheidene landwirtschaftliche und gewerbliche Ernährungsgrundlage“ verfügte.

Allerdings bestand nur ein Teil der Bevölkerung auf dem Lande aus Vollbauern, die alleine von ihrer selbständig betriebenen Landwirtschaft existieren konnten.

Der weitaus größere Anteil der ländlich-dörflichen Bevölkerung war hingegen längst nicht mehr in der Lage, den Lebensunterhalt nur von der Landwirtschaft zu bestreiten.

Als zuarbeitende Hilfskräfte auf großen Bauernhöfen oder durch zahlreiche andere, vor allem handwerkliche Nebengewerbe erwarben die Landbewohner ihren Lebensunterhalt.

Dadurch herrschte eine neue Arbeitsteilung im Dorf vor.

Etwa die Hälfte aller Gewerbetreibenden in Deutschland lebte im 17.-19. Jahrhundert auf dem Lande.

In Heinade, Hellental und Merxhausen gab es damals die verschiedensten Landhandwerke und Gewerbe.

Da sich die dörfliche Bevölkerung noch bis in das 19. Jahrhundert hinein weitgehend selbst mit Nahrungsmitteln versorgte, gab es hier nur sehr wenige Bäcker oder Fleischer.

Zu den häufigsten Berufen zählten dem hingegen Müller, Schmiede und Zimmerleute, vornehmlich aber Leineweber, Schneider und Schuhmacher.

Erwerbsmöglichkeiten als Leineweber, Dorfhandwerker oder Waldarbeiter trugen auf Grund zunehmender Nachfrage wesentlich zur Existenzsicherung der „kleinen Leute“ bei.

Gleichwohl waren diese Erwerbstätigkeiten letztlich aber nur als „billige Arbeit“ nachgefragt.

Typische Gewerbe im 18./19. Jahrhundert war einerseits das Heimgewerbe, andererseits das Verlagswesen.

Im Heimgewerbe, auch als „Hausindustrie“ bezeichnet („Industrie“ = häuslicher Fleiss), wurde nebenberuflich eine gewerbliche Produktion für den anonymen Markt durch Familienangehörige erbracht (zunächst Garn-, später Leinenerzeugung).

Der in hohem Maße vom Verleger abhängige Verlagsarbeiter bekam in der Regel die erforderlichen Produktionsmittel und die zu verarbeitenden Materialien vom Verleger gestellt (Lohnarbeit).

Sowohl für die kleinen Bauerndörfer Heinade und Merxhausen als auch für das Arbeiter- und Handwerkerdorf Hellental während der frühen Neuzeit kennzeichnend ist das tagtägliche Bemühen seiner „kleinen Leute“ - soziale Unterschicht, „unterbäuerliche“ Schicht - um ihre Subsistenz, um ihre Sicherung und Aufrechterhaltung eines vornehmlich physischen Existenzminimums ihrer Familienangehörigen durch hauswirtschaftliche Beschaffung von Grundnahrungsmitteln.

Die meisten Bewohner sicherten in jener Zeit ihre Existenz mit einer landwirtschaftlichen Tätigkeit, auch dann, wenn sie einem handwerklichen oder gewerblichen Beruf nachgingen (Mischeinkommen).

Die Leinenweberei, das Steinbrechen und die Töpferei zählten zu den wesentlichen bäuerlichen Nebengewerben.

Sozial benachteiligten Menschen der Dörfer blieb oftmals keine andere Alternative, als durch Wanderarbeit, Tagelohn und Gewerbe die existentielle Grundsicherung für sich und die Familie zu erarbeiten (halbproletarische Haushalte).

Durch kriegerische wie klimatische Ereignisse kam es während der frühen Neuzeit in Westeuropa wiederholt zu großen Subsistenzkrisen durch schlechte Ernten mit der Folge eines extremen Anstieges der Getreidepreise und einer weit verbreiteten Unterernährung mit hoher Sterblichkeit

  • 1771/1772

  • 1815/1817

  • 1830/1831

  • 1846/1848.

 

Wandel zur freien Marktwirtschaft

War die Subsistenzwirtschaft in der frühen Neuzeit zunächst noch die vorherrschende Wirtschaftsform, so wurde sie in der Folgezeit zunehmend von der aufkommenden Marktwirtschaft verdrängt.

Hierdurch veränderte sich der Wirtschaftsstil grundlegend.

Der Gebrauchswert eines „Produktes“ trat in den Hintergrund, dessen Tauschwert hingegen in den Vordergrund.

Güter wurden nicht mehr nur zur unmittelbaren Bedarfsdeckung ihrer „Produzenten“ hergestellt, vielmehr erfolgte eine Orientierung an dem Markt, verbunden mit dem Ziel, eine Gewinnmaximierung zu erreichen.

Fortan wurde zielgerichtet im Hinblick auf die Herstellung messbarer Tauschwerte gearbeitet.

Dieser grundlegende Wandel hin zur freien Marktwirtschaft setzte eine Überschussproduktion bei Spezialisierung und regionaler wie überregionaler Arbeitsteilung voraus.

Eine höhere Anfälligkeit gegenüber Krisen durch konjunkturelle Schwankungen war unweigerlich die Folge, wie es auch für das Leben und Arbeiten der hier dokumentierten Familien abbildbar ist.

Über die Not der „kleinen Leute“ zwischen Sollingrand und Holzberg im Zusammenhang mit der neuen, freien Marktwirtschaft wird im Folgenden noch berichtet.

Erst sehr viel später sollte sich eine soziale Marktwirtschaft unter wesentlich geänderten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entwickeln.

 

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[1] Ortswüstungen „Holtensen unter dem Holtenser Berg“ und „Hissihausen“.

[2] HOFFMANN 2004, S. 17.

[3] HAUPTMEYER 2004, S. 52 f.

[4] HOFFMANN 2004, S. 17.

[5] HOFFMANN 2004, S. 22.

[6] WÄCHTER 1959, S. 16.

[7] HAUPTMEYER 1995.

[8] HAUPTMEYER 2004, S. 99.

[9] HENZE 2004, S. 45; Akademie Bremen 1999.

[10] WÄCHTER 1959, S. 18 ff.

[11] RAULS 1983, S. 128 f.

[12] Abb. B in LANDZETTEL 1985, S. 112.