Familie Rothschild und der Leinenhandel

Klaus A.E. Weber │ Rolf Clauditz

 

"Weil wir das Garn zum Linnen

Noch immer selber spinnen,

Die Gespinste selber auch verweben,

Kann es gar kein bessres Leinen geben." [1]

 

Das spätmittelalterliche Sollingranddorf Merxhausen erlebte während der norddeutschen Blütezeit des Leinenhandels im 18. Jahrhundert seine „größte Zeit”.

 

Stadtoldendorfer "Weberei-Fabrique"

mit Niederlassung in Merxhausen

Die 1765 von Georg Dietrich Floto in Stadtoldendorf gegründete Manufaktur "Weberei-Fabrique" (buntes Linnen, gefärbte Baumwollerzeugnisse) betrieb im 18. Jahrhundert in Merxhausen eine Niederlassung.

An die Blütezeit des Leinengewerbes und an den einst florierenden Leinenhandel erinnernd, trägt seit 1998 die alte evangelische Dorfkapelle in Merxhausen den Namen "Lydia-Kapelle".[4]

 

Um 1800

Drei jüdische Familien in Merxhausen

In ihrer Beschreibung, die sie „Sr. Herzoglichen Durchlaucht Herrn Karl Wilhelm Ferdinand regierendem Herzoge zu Braunschweig=Lüneburg unterthänigst gewidmet“ haben, führen HASSEL/BEGE [16] aus, dass es 1803 unter den Einwohner*innen von Merxhausen "mehrere Professionisten" gibt, worunter sich "3 Judenfamilien" befinden.

 

Familie Rothschild in Merxhausen

Die ortshistorisch wichtige Frage, woher, warum und seit wann die Familie Rothschild sich in Merxhausen ansiedelte, bleibt nach wie vor unbeantwortet.

Eine Überlegung von HENZE/LILGE [2] geht dahin, dass einerseits durch die napoleonische Gründung des französischen Königreiches Westphalen (1807-1813) die Grenze zwischen dem eingegliederten hannoverschem und hildesheimischen Gebiet aufgehoben wurde.

Andererseits begünstigte die unter der französischen Herrschaft eingeführte jüdische Emanzipation und Gewerbefreiheit die Ansiedlung der Familie Rothschild in Merxhausen wie auch ihre Firmengründung.

Abraham Rothschild wurde 1772 in Merxhausen als Sohn des Garnhändlers Ephraim ben Joseph aus Wangelnstedt geboren.

Erst 1808 nahm Ephraim ben Joseph wähend der französischen Herrschaft den Nachnamen "Rothschild" an.

Nach HENZE/LILGE [2] haben jüdische Familien in Merxhausen nur wenig länger als 100 Jahre gelebt.

Die Autoren nehmen an, dass es vor 1800 in Merxhausen keine jüdische Glaubensgemeinschaft gegeben habe, insbesondere aber keine Angehörigen der Familie Rothschild.

Von HENZE/LILGE durchgeführte Befragungen und archivalische Aktenstudien lieferten nur schemenhafte und recht vage Beschreibungen des jüdischen Lebens in Merxhausen - und „jede Antwort brachte neue Fragen mit sich“.

Der am 24. Juli 1785 geborene und am 17. Januar 1867 verstorbene Samson Joseph Rothschild ist der nachweislich älteste Bestattete des jüdischen Friedhofes bei Merxhausen.

In Merxhausen fand sich einst eine hebräisch sprachliche Hausinschrift von Abraham Samson Rothschild.

Eine weitere auf Samson Joseph Rothschild bezogene hebräische Inschrift von 1828 lautete [9]:

 

Gesegnet seyst du wen du ausgehst,

gesegnet seyst du wen du komst.

Samson Jos. Rothschild.

Jette Rothschild geb. Berg

 

Ab 1808

Leinenhandel

Der Zeitpunkt der jüdischen Zuwanderung ist bislang ungeklärt geblieben (wahrscheinlich im 19. Jahrhundert).

Die jüdischen Familien sollen ursprünglich relativ arm nach Merxhausen gekommen, aber in der Folgezeit wohlhabend geworden sein.

Der am 03. September 1772 in Merxhausen geborene Abraham Joseph Rothschild begründete 1808 in Merxhausen einen Leinenhandel, wobei er ein Warenlager für Garne und Leinenstoffe betrieb.

Abraham Joseph Rothschild kaufte und verkaufte handgesponnene und handgewebte Textilerzeugnisse der Weber in der Region.[11]

Die drei Brüder (Junggesellen)

  • Julius Rothschild (1853-1921)
  • Salomon Rothschild (1863-1930)
  • Ephraim Rothschild (1859-1934)

sollen großen Einfluss auf den Lebensstandard und großes gesellschaftliches Ansehen in Merxhausen gehabt haben.

 

Firma I.S. Rothschild

Julius und Ephraim Rothschild waren Inhaber der Firma I.S. Rothschild mit Sitz in Merxhausen Nr. 23.[17]

Erben:[17]

  • Weinberg, Julius, Dr. jur., geb. 1892, Rechtsanwalt

  • Heineberg, Anna, geb. Weinberg, geb. (keine Angabe)

  • Kerp, Martha, geb. Weinberg, geb. (keine Angabe)

Der von Julius und Ephraim Rothschild betriebene Leinenhandel, dessen Ware hauptsächlich aus heimischer Fertigung stammte, habe einen großen Teil der Dorfbewohner beschäftigt.

So standen in fast allen Wohnhäusern von Merxhausen Webstühle, auf denen die aus dem In- und Ausland bezogenen Garne in Heimarbeit gegen Lohn zu Stoffen verarbeitet worden seien.

Die fertig gewebten Stoffe wurden dann in Rollen von der Textilhandlung der Brüder Rothschild übernommen und die Weber nach Stoffmenge und -qualität entlohnt.

Die Fertigware wurde entweder am Ort verkauft oder durch eine eigene Händlergruppe in großen Städten, wie Braunschweig, Hannover oder Bremen, abgesetzt worden.

Auf Grund ihrer beträchtlichen Anzahl habe in Merxhausen ein eigener Verein der Handelsleute bestanden.[2]

Durch die weitläufigen Handelsbeziehungen entwickelten sich „gewisse Umgangsformen“ die Merxhausen den Spitznamen „Klein Berlin“ einbrachte.

Nach HENZE/LILGE [2] habe der von der Familie Rothschild im Laufe eines Jahrhunderts erworbene Besitz, neben dem Wohnhaus, dem Geschäfts- und Lagerhaus, noch Garten-, Wiesen- und Ackerflächen von etwa 25.000 m² umfasst.

Folgt man einer dörflichen Erzählung, so sei bei "Rothschilds" in Merxhausen eingebrochen worden, wie ein beträchtlicher Geldfund in einem grenznahen Bodenversteck zwischen Merxhausen und Mackensen ausweise.

 

Wohnhaus der Familie Rothschild │ Merxhausen Nr. 23 │ Juli 2022

Fachwerkhaus nach dem Brand von 1814

ab 1942 Landdienstheim der NSDAP [17]

© HGV-HHM, Foto: Klaus A.E. Weber

 

1814

Am Weihnachtstag brennen Wohnhaus und Warenlager

Rund sechs Jahre später, am Weihnachtstag 1814, brannten das Wohnhaus und das Warenlager nieder.

Die Brandursache liegt nach wie vor im Dunkel der Geschichte - und wirft im Spiegel der weiteren bitteren Geschichtsentwicklung kritische Fragen auf.

Die Familie von Abraham Joseph Rothschild übersiedelte mit dem verbliebenen Rest ihrer Waren am 02. Januar 1815 nach Stadtoldendorf, wo sie in der Baustraße des Ackerbürgerstädtchens mit dem Rest der geretteten Waren eine eine An- und Verkaufsstelle für Garne und Stoffe eröffneten.[11][15]

Etwa 300 Garnspinner und Weber der Region sollen zu den Lieferanten und Kunden der Familie Rothschild gezählt haben.[12]

Ältestes schriftliches Zeugnis aus jener Zeit ist ein Brief von Julius Bibo an seinen Bruder Ephraim Rothschild (1808-1900) vom 02. Dezember 1834.

Ephraim Rothschild, Sohn von Abraham Joseph Rothschild, war bei seinem Vater im Geschäft tätig, wobei er mit ihm die Braunschweiger Messe besuchte.

Im Jahr 1843 verstarb der Firmenbesitzer Abraham Joseph Rothschild, der in Köln eine Filiale gegründet hatte.

 

1869

"Mechanische Weberei A. J. Rothschilde" in Stadtoldendorf und Textilhandlung in Merxhausen

1869 wurde als Manufakturwarengeschäft die "Mechanische Weberei A. J. Rothschilde" in Stadtoldendorf gegründet, die jahrelang das Wirtschaftsleben der Stadt prägen sollte.[11]

Am 01. Februar 1898 gründete die Firma A. J. Rothschild und Söhne die älteste Werkfeuerwehr für ihre Weberei.

Ein späteres, um 1900 erbautes, dreistöckiges Gebäude in Merxhausen sei zuletzt die Textilhandlung der Firma Rothschild gewesen.

Der größere Gebäudeteil habe als Lagerhaus gedient.

Im Erdgeschoss sei ein „Verkaufscomptoir“ untergebracht gewesen.

Lagerarbeiter, Packer und vier „Commis“ seien darin beschäftigt gewesen.

 

1895

Mechanische Weberei A. J. Rothschild in Stadtoldendorf

A. J. Rothschild Söhne

Mechanische Weberei

Färberei und Appretur-Anstalt

Leinen – Jute

Stadtoldendorf, Herzogth. Braunschweig

 

Übersichtsplan vom 26. Juni 1895

über die Gebäude der mechanischen Weberei der Herren A. J. Rothschild. Söhne“ [18]

 

1924

J. S. Rothschild Merxhausen/Braunschweig

 

Vorderseite eines Eilfrachtbriefes vom 12. November 1924 [7]

für einen Ballen Leinenwaren mit einem Rohgewicht von 23 ½ kg

Absender: J. S. Rothschild Merxhausen/Braunschweig

© HGV-HHM, Foto: Klaus A.E. Weber

 

1938

„Arisierung“ │ Pogromnacht │ Nationalsozialistischer Schauprozess

Am 30. Januar 1933 war erstmals auf Geheiß des Bürgermeisters Karl Sünnemann (1933-1945) an Stelle der schwarz-rot goldenen Fahne die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus von Stadtoldendorf gehißt worden.

Gleichwohl kein Angehöriger der Familie Rothschild mehr in Merxhausen wohnte, sei in der Pogromnacht [8] - in der Nacht vom 09. zum 10. November 1938 - das große Gebäude geplündert und demoliert worden.[3]

Als Betriebstreuhänder wurde der Staatsbankdirektor Rudolf Bartels in Holzminden für eine Übergangszeit eingesetzt.

Als "neuer Betriebsführer" übernahm am 03. April 1938 der nationalsozialistische Fabrikant Wilhelm Kübler (geb. 1876) die 1869 gegründete und zuvor am 01. April „arisierte“ "Mechanische Weberei A. J. Rothschild" in Stadtoldendorf.[6]

Die "Weberei A.J. Rothschilld Söhne" hatte in jener Zeit weltweite Handelsbeziehungen und war mit 650 Beschäftigten einer der bedeutendsten Arbeitgeber jn der Region.

Im August 1937 wurden die vier Gesellschafter der als Kommanditgesellschaft geührten Weberei in Stadtoldendorf festgenommen und inhaftiert.

Drei der vier Gesellschafter der traditionsreichen Weberei wurden im Juli 1938 in einem Schauprozeß ("Stadtoldendorfer Judenprozeß") vom Sondergericht in Braunschweig wegen „Devisenvergehens und Volksverratsverbrechens“ zu hohen "Gesamtzuchthausstrafen" und zu Geldstrafen verurteilt - mit dem Beginn des Bereicherungswettlaufs um das Privatvermögen.[5]

Nach ihrer Haftverbüßung im Zuchthaus Hameln wurden zwei der Gesellschaftler von der Geheimen Staatspolizei (Gestabo) Braunschweig [10] in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wo beide in der KZ-Haft 1940 bzw. 1942 verstarben.[5]

Arisierung

1938 übernahm Wilhelm Kübler die 1869 gegründete, im Nationalsozialismus „arisierte“ Weberei Rothschild in Stadtoldendorf.

Just in jenem Jahr wurde dem Webereidirektor Wilhelm Kübler von seinen kaufmännischen Angestellten eine Holztafel mit Szenen aus der Weberei überreicht.

Wilhelm Kübler konnte am 01. Oktober 1938 auf eine 25-jährige Tätigkeit in der Textilherstellung in der Weberei in Salzgitter zurückblicken.

 

1939

"Vereinigte Weberei Salzgitter-Stadtoldendorf Wilhelm Kübler & Co." und NS-Zwangsarbeit

Das aus politisch-strategischen Gründen zu einem Unternehmen fusionierten Textilunternehmen in Salzgitter und Stadtoldendorf firmierten ab dem 01. April 1939 in einer Fabrikanlage als "Vereinigte Weberei Salzgitter-Stadtoldendorf Wilhelm Kübler & Co.", seit 1957 als "Wilhelm Kübler & Co."

Im Kontext mit dem NS-Zwangsarbeiterlager "Lenner Lager" im "Schwarzen Land" bestand nahe der Werksgebäude ein Ostarbeiterlager der Weberei Kübler, in dem eine größere Anzahl Polinnen und später auch Ukrainerinnen unter schikanösen Bedingungen zwangsweise gearbeitet hat (NS-Zwangsarbeit).

 

"Grob und Fein verweben"

Das Unternehmen hatte 1965 über 1.000 Mitarbeiter*innen und ging schließlich am 16. Februar 1982 in Konkurs.

Ein Wandteller der Porzellanmanufaktur Fürstenberg aus den 1970er Jahren trägt auf der Rückseite die Aufschrift:

„Wilhelm Kübler + Co. │ Wie im Leinen – so im Leben – heißt es: Grob und Fein verweben“.[14]

 

1942 [17]

1942 erfolgten Verhandlungen über die Vermietung des Wohnhauses Nr. 23 für ein Landdienstheim der NSDAP.

Regelungen zu Einziehung, Verwaltung und Verwertung von Brinksitzerstellen und Anbauerwesen in Merxhausen mit den dazugehörigen Ländereien in den Feldmarken Merxhausen, Stadtoldendorf und Hellental schließen sich an.

 

_____________________________________

[1] Einem weit gereisten Handelsmann aus Merxhausen zugeschriebenes Zitat aus dem mundartsprachlichen Zeitungsartikel „Im Blauen Engel to Brunswiek“, Fragment aus einer unbekannten Zeitung, datiert 1935.

[2] HENZE/LILGE 1989, S. 143 f.

[3] MITZKAT/SCHÄFER (o.J.), S. 42.

[4] Die in der Apostelgeschichte erwähnte Purpurhändlerin Lydia von Philippi aus der Stadt Thyatira gilt als die Schutzpatronin der Färber.

[5] ERNESTI 1996, S. 54-62.

[6] "Vereinigte Weberei Salzgitter-Stadtoldendorf Wilhelm Kübler & Co." - spätere moderne Firmenbenennung: "Weberei Wilhelm Kübler + Co." │ 3457 Stadtoldendorf │ 1859-1982.

[7] Archiv HGV-HHM │ Merxhausen.

[8] ERNESTI 1996, S. 63-68.

[9] TACKE 1907, S. 191.

[10] CREYDT 2001, S. 75-125.

[11] RAULS 1974, S. 151-153.

[12] Wie RAULS 1974, S. 151, ausführte, seien noch "Rechnungsbücher in jiddischer Schrift" aus jener Zeit im (damaligen) Museum vorhanden.

[13] RAULS 1974, S. 160-162.

[14] HISTORISCHES MUSEUM HELLENTAL - SOLLINGHAUS Weber│Museum der Alltagskultur.

[15] EGGELING 1936, S.136.

[16] HASSEL/BEGE 1803, S. 336 (12.).

[17] NLA HA Nds. 225 Holzminden Acc. 2003/105 Nr. 20.

[18] KreisA HOL 1403/9.