Mystische Vorhersagungen
Klaus A.E. Weber
Die zersprungene Glocke (in Hellenthal)
oder „Die Glocke brachte es an den Tag“
Der Hellentaler Lehrer PAUL TIMMERMANN [9] schrieb 1925 die Geschichte der „Zersprungenen Glocke in Hellenthal” auf, die seine Frau Leni Timmermann zum Abdruck dem Heimat- und Geschichtsverein Holzminden e.V. zur Verfügung stellte.
Sie selbst fertigte hierzu 1987 eine eigene Kurzdarstellung als „Sage” an.[2]
Von der Volkserzählung findet sich auch eine Variation in dem von SOHNREY 1929 veröffentlichten Solling-Werk „Tchiff, tchaff, toho!”.
Zudem wurden in der Folgezeit jeweils variierende Nacherzählungen von TEIWES, KOLLMANN, PETSCHEL, PORATH und von der AGH ORTSGESCHICHTEN veröffentlicht.[3][11]
Das Zerspringen einer Kirchenglocke war offenbar zu jener Zeit kein allzu seltenes Ereignis, wie es auch das Schicksal der Kirchenglocken von Merxhausen (1899) und von Deensen am 1. Pfingsttag 1830 zeigte.[4]
Bemerkenswert ist, dass PETSCHEL noch im Jahr 2001 in seiner kleinen Sammlung von Sagen und Märchen aus der Region des niedersächsischen Berglandes ausführt:
Derjenige, der nach Hellental komme, „die Geschichte noch von alten Leuten erzählt hören und sich überzeugen“ kann, „dass sie nicht nur erzählt, sondern auch fest geglaubt wird.“[5]
Zunächst ist noch vorauszuschicken, dass noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Solling die Aufzucht und der Handel mit Kanarienvögeln in Blüte standen.
In jener Zeit war in allen Sollingdörfern ohnehin ein wirtschaftliches Basisauskommen nur durch Nebenerwerb zu gewährleisten.
Zu einem solchen gehörten auch der Handel mit Russland und Nordamerika mit zum Singen abgerichteten Dompfaffen und Kanarienvögeln.
Nach einer Überlieferung war auch in Hellental ein alter Mann auf den nebenerwerblichen Verkauf von Kanarienvögeln angewiesen, der Kanarienvogelzüchter und Vogelhändler Wilhelm Brömer.[6]
Von ihm erzählte man sich dieses und jenes in Hellental.
Er soll, um alle seine Zuchtvögel zu verkaufen, weit umher gezogen sein.
Meistens mit einer ordentlichen Tracht von Hähnen nach Russland beladen, vertrieb er dort seine begehrten Vögel.
Eines Tages im Herbst soll Wilhelm Brömer wieder mit Kanarienvögeln nach Russland gezogen sein.[7]
Zu seiner Begleitung und Unterstützung habe er einen 14- oder 15-jährigen, nicht mehr schulpflichtig Burschen namens Denecke mitgenommen.
Der junge Mann habe so auch die Welt kennen lernen wollen.
Auf dieser Reise sei in Russland schnell die kostbare Last in klingende Münze umgesetzt worden.
Der Vogelhändler habe sich wieder auf den Heimweg nach Hellental gemacht.
Jetzt sollen Verhältnisse eingetreten sein, die nie ganz aufgeklärt wurden.
Als Wilhelm Brömer nach Jahr und Tag (nach einem halben Jahr) nach Hellental zurückgekommen und der junge Bursche nicht mit zurückgekehrt sei, sollen ihn die misstrauischen Eltern des jungen Burschen, der stets gesund und käftig gewesen sei, nach dessen Verbleib gefragt haben.
Wilhelm Brömer soll glaubwürdig erwidert haben, dass der junge Mann erkrankt und dann gestorben sei, obwohl er alles Menschenmögliche für ihn getan habe.
Die Mutter des jungen Burschen soll den Beteuerungen von Wilhelm Brömer jedoch nicht geglaubt und ihm vorgeworfen haben, dass er den Jungen in Russland gelassen und ihn dort verkauft habe.
Alle Versuche Brömers, sich zu rechtfertigen und alle Schuld entschieden von sich zu weisen, seinen fehlgeschlagen.
Daraufhin soll Wilhelm Brömer gesagt haben:
„Es ist so wahr, dass der Junge gestorben ist, wie es wahr werden soll, dass an meinem Todestage bei meinem Totengeläut die Glocke springen soll.“
Etliche Jahre seien dann ins Land gegangen und Wilhelm Brömer habe sein Geschäft wie immer betrieben.
Das ungeklärte, geheimnisvolle Verschwinden des jungen Mannes sei darüber fast in Vergessenheit geraten; nur hin und wieder sei derselbe noch erwähnt worden.
Eines Tages im Jahre 1890/1891 (wahrscheinlich 1893) sei Wilhelm Brömer gestorben.
Er habe einen leichten Tod gehabt, friedlich sei er eingeschlafen.
Hingegen habe man im Dorf aber einen grässlichen und schmerzhaften Tod erwartet.
Aber nichts von alledem sei eingetreten.
Als der Totengräber Wilhelm Brömer das Totenschauer geläutet habe, soll die Glocke nach ein paar Anschlägen plötzlich einen kurzen, hohlen und blechernen Ton abgegeben haben - sie sei gesprungen.
Die Einwohner von Hellental sollen sich der Aussage des Toten erinnert und festgestellt haben, dass man Wilhelm Brömer seinerzeit zu Unrecht verdammt habe.
[12]
In der Darstellung von SOHNREY (1929) und TIMMERMANN (1987) sowie in den folgenden Nacherzählungen von TEIWES (1931/1982), LESSMANN (1984), KOLLMANN (o.J.), PETSCHEL (2001), PORATH (2008) und von der AGH ORTSGESCHICHTEN (2017) findet sich hierzu die folgende, im Ergebnis deutlich abgewandelte Version des letzten Erzählteils:[8]
Danach habe die Mutter des verschwundenen jungen Mannes Wilhelm Brömer nicht geglaubt und sei bei ihrer Behauptung geblieben, dass er ihren Sohn als Sklave in Russland, Amerika bzw. im Morgenland gelassen und ihn dort (an Türken) verkauft habe.
Dabei sei sie auch geblieben und habe geschworen:
„Zum Zeichen des begangenen Verbrechens wäre es so gewiss wahr, dass einst bei der Beerdigung von Wilhelm Brömer die Glocke der Hellentaler Kapelle beim Totengeläut zerspringen würde.“
Und wie es denn so merkwürdig im Leben zugehe, Wilhelm Brömer sei gestorben und die Totenglocke habe zunächst langsam und feierlich geläutet, habe aber dann plötzlich ganz scheppernde, heisere Laute hören lassen.
Beim Besteigen des Glockenstuhls habe sich bei der Inspektion der Glocke wahrhaftig gezeigt, dass sie einen großen Sprung aufwies.
Da hätten die Eltern gewusst, dass Wilhelm Brömer ihren Sohn verkauft habe.
Eine neue Glocke sei für die Hellentaler Kapelle gegossen worden, die aber beim Tode von Wilhelm Brömers ältestem Sohn während des Totengeläuts ebenso wieder zersprungen sei.
Die gesamte Nachkommenschaft (Familie) des Vogelhändlers Wilhelm Brömer sei weit und breit in Verruf geraten und sozial isoliert worden.
Schließlich seien daraufhin alle Personen mit Namen Brömer nach Amerika ausgewandert und man habe nichts mehr von ihnen gehört.
[10]
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[2] Jahrbuch für den Landkreis Holzminden Bd. 5/6, 1987/88, S. 169-171.
Detlef Creydt (Holzminden): schulchronistische Aufzeichnungen der Lehrer Bernhard Lehmann und Fritz Rodbarth (Gemeindeschule Hellental) von 1949 bzw. ab 1950; entnommen aus den von Creydt zur Geschichte der Hellentaler Dorfschule lose gesammelten und Anfang 2003 freundlicherweise überlassenen Manuskriptunterlagen sowie weiteren, Anfang 2004 überlassenen Unterlagen (Fotokopien) und handschriftlichen Notizen; archiviert beim Heimat- und Geschichtsverein für Heinade-Hellental-Merxhausen.
[3] SOHNREY 1929, S. 254-255; TEIWES 1931, S. 104; KOLLMANN o.J., S. 50; LESSMANN 1984, S. 94; PETSCHEL 2001, S. 94; PORATH 2008, S. 179.
[4] RAULS 1983, S. 178.
[5] TEIWES 1931, S. 104; PETSCHEL 2001, S. 94; PORATH 2008, S. 179.
[6] Möglicherweise handelte es sich um den am 10. März 1813 geborenen Brinksitzer Johann Ernst Wilhelm Brömer, Sohn des Leinewebers Johann Ernst Gottlieb Brömer (Ass.-№ 21).
[7] nach Darstellung von Leni Timmermann (1987) sei Wilhelm Brömer nach Amerika gezogen.
[8] SOHNREY 1929, S. 255; TEIWES 1931, S. 104; LESSMANN 1984, S. 94; Jahrbuch für den Landkreis Holzminden Bd. 5/6, 1987/88, S. 170; PETSCHEL 2001, S. 94; KOLLMANN o.J., S. 50; PORATH 2008, S. 179; AGH ORTSGESCHICHTEN 2017, S. 30-31.
[9] Zur politischen "Bewertung" des Parteibuchbeamten aus Hellental als "Nazimann" wird verwiesen auf den Aufsatz von SEELIGER 2010, S. 85-87.
[10] TAH 1979.
[11] AGH ORTSGESCHICHTEN 2017, S. 30-31.