Einwandern │ Auswandern │ Flüchten │ Neubeginn

Klaus A.E. Weber

 

∎ Schiffspassage über die Reederei Norddeutscher Lloyd

mit dem legendären Turbinenpassagierschiff Bremen von Bremerhaven nach New York;

auf der Rückseite ist die Fotografie handschriftlich datiert auf das Jahr 1930

© Historisches Museum Hellental

 

Binnenwanderung und überseeische Auswanderung

Phänomen der Armut sozialer Unterschichten

Demografische Veränderungen gehen – damals wie heute – auch mit Wanderungsgewinnen und –verlusten innerhalb einer räumlich (regionalen) wie zeitlich umschriebenen Bevölkerung einher.

In diesem dynamischen Prozess entstanden vormals und entstehen auch heute Zu- und Abwanderungsregionen, nach wie vor maßgeblich geprägt von Ausbildungs-, Arbeitsplatz- und Familienwanderungen.

 

Binnen- und Zuwanderung

Zur gewerblichen Produktion im 18./19. Jahrhundert wurden in Deutschland auch ausländische Arbeitskräfte herangezogen, was zur Binnen- und Zuwanderung von Familien und Einzelpersonen führte (Arbeitsmigration).

Auch die aufstrebende Bevölkerung des jungen Arbeiter- und Handwerkerdorfes Hellental setzte sich im Laufe ihrer Entwicklung im 18./19. Jahrhundert durch zahlreiche Zuzüge unterschiedlicher Familien (Arbeitsimmigranten) aus verschiedenen Regionen, z.T. von weit außerhalb des Sollings und Weserberglandes kommend, recht heterogen zusammen.

Zu den abgelaufenen sozialen Integrationsprozessen durch jeweils neue, ansässige Bevölkerungsgruppen in Hellental ist bislang nichts bekannt.

Die zunehmende Intensivierung der Waldarbeit in den staatlichen Forsten, hingegen aber nicht das sonst regional übliche Agrarwesen, bestimmte dabei auf Jahrzehnte hin maßgeblich das dörfliche Sozial- und Wertgefüge, die gesellschaftliche Orientierung, das politische Selbstverständnis und nicht zuletzt auch die besondere, heute noch wahrnehmbare Eigenart des liebenswerten Sollingdorfes.

Die Einwohnerzahl des nicht landwirtschaftlich orientierten Bergdorfes Hellental hat sich in der erst kurzen, aber dennoch recht wechselvollen Dorfgeschichte bis heute relativ diskontinuierlich entwickelt.

Es ist anzunehmen, dass zunächst mit der Gründung der ortsfesten Waldglashütte Steinbeke um 1715 die Zahl der ansässigen Glasmacher und ihrer Familien auf das betriebswirtschaftliche Mindestmaß begrenzt war, das zur Erfüllung der Glasproduktion erforderlich war.

Die Einstellung des Glashüttenbetriebes um 1745, verbunden mit dem Wechsel der meisten Hellentaler Glasmacherfamilien nach Schorborn zur dort neu errichteten landesherrlichen Glashütte, bedeutete einen recht gravierenden Einschnitt in die entwickelte örtliche Besiedlung und in die weitere Bevölkerungsentwicklung.

Mit der unter (forst-)wirtschaftlichen wie bevölkerungspolitischen Aspekten staatlich geförderten Ansiedlung neuer Anbauer bzw. Arbeiter und Handwerker zur Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhr das abgelegene Glasmacherdorf Hellental einen eher bescheidenen Aufschwung, der sich in den Jahren 1795-1825 deutlich zunehmend fortsetzte.

Die neuen Anbauer, die Arbeitsimmigranten der zweiten Siedlungsphase, bestimmten, neben den wenigen verbliebenen Familien der ersten Siedlungsphase, über Generationen hinweg maßgeblich die Zusammensetzung der Hellentaler Dorfbevölkerung.

Demografische Veränderungen gehen – damals wie heute – auch mit Wanderungsgewinnen und –verlusten innerhalb einer örtlich wie zeitlich umschriebenen Bevölkerung einher.

In diesem dynamischen Prozess entstanden vormals und entstehen auch heute Zu- und Abwanderungsregionen, nach wie vor maßgeblich geprägt von Ausbildungs-, Arbeitsplatz- und Familienwanderungen.

 

„Sozialprofil“

Mühsal, Armut, Not und Elend wie auch politische Verfolgung bestimmten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts den Lebensalltag zahlreicher Menschen.

Hinzu traten die Hyperinflation um 1923, die Weltwirtschaftskrise um 1930 wie auch die erzwungene Auswanderung und Flucht jüdischer Bewohner*innen.

Die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nährten insbesondere bei den "kleinen Leuten" im jungen Alter noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts den Wunsch nach Auswanderung, verbunden mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und die eigenen Kinder, der Chance auf Erlangung von Unabhängigkeit, eigenem Grund und Boden und auf gute Erwerbsmöglichkeiten.

Das „Sozialprofil“ eines typischen Auswanderers zeigt eine dörfliche Herkunft aus einer Kleinbauern- oder Häuslerfamilie.

In der Regel war der Mann als Knecht und die (Ehe-) Frau als Magd beschäftigt.

Beide verstanden es, hart zu arbeiten.

Meist war es dann die bittere Armut, die sie auswandern ließen.[1]

Es emigrierten weitaus mehr Männer als Frauen, bisweilen auch ganze Familien, wie sich auch anhand der vorliegenden genealogischen Forschungsergebnisse für die hier betrachtete Dorf:Region herleiten lässt.

 

"Ausgewandert" nach Übersee

Die Auswanderung einer großen Bevölkerungsanzahl nach Übersee zählt auch im niedersächsischen Raum zu den demografisch einschneidensten Ereignissen des 18./19. Jahrhunderts.

Sie war ein hauptsächlich ein Phänomen der sozialen Unterschichten.

In den Jahren zwischen 1880 und 1914 verließen jährlich bis zu 1,3 Millionen Europäer*innen das europäische Festland.

Über Auswandererhäfen, wie Bremerhafen, überquerten sie die verheißungsvollen Meere auf der Suche nach einem besseren Leben - so in den USA, Kanada und Lateinamerika.

Während des beschriebenen kritischen Zeitraumes kam es zu einer zunehmenden Verschlechterung des Lebensstandards bei krisenhafter Zuspitzung der allgemeinen, wie insbesondere der sozio-ökonomischen Lebensverhältnisse lohnabhängiger Bevölkerungsgruppen (Teuerungs-, Hungerjahre, Missernten).

Im ländlichen Nebenerwerb konnten nur noch mangelnde Einkünfte erzielt werden.

Auch die ohnehin schlecht verdienenden Handwerker der überbesetzten Gewerbe (u.a. Schuster, Schneider) wurden in den Strudel der rasant zunehmenden Verarmung gezogen.

Wie im gesamten niedersächsischen Raum führten diese äußerst schlechten sozio-ökonomischen Bedingungen schließlich auch zur schubweisen Massenauswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig ins außerdeutsche Ausland, nach

  • Osteuropa

  • Australien

  • Südafrika

  • Nordamerika

und in andere überseeische Länder.[2]

Ständig sinkende Löhne und das enorme Bevölkerungswachstum, mit dem letztlich auch die Lebensmittelherstellung nicht Schritt halten konnte, waren die hauptsächlichen Emigrationshintergründe.

Zu erwähnen ist zudem, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Verschuldung in den meisten Dörfern „ein kaum noch tragbares Maß angenommen“ und dabei die Anzahl „schuldenhalber verpachteter Höfe“ ständig zugenommen hatte.[3]

Die Auslöser, Gründe und individuellen Entschlüsse, aus der angestammten Heimat auszuwandern, waren aber überaus komplex. Im Vordergrund stand vorwiegend die große Armut und Not. Aber auch andere, selbst- wie fremdbestimmte Motive gaben im Einzelschicksal zur Emigration Anlass:[4]

  • Flucht Oppositioneller vor politischer Verfolgung,
  • Abschiebung missliebiger Personen (beispielsweise Frauen mit „liederlichem Lebenswandel und unehelichen Kindern),
  • Straffällige und Vagabunde,
  • Abenteuerlust und Hoffnung auf bessere Lebens- und Erwerbsbedingungen,
  • Idealismus zur Gründung von Kolonien,
  • Anwerbung als Soldat.

Die Emigration hatte einerseits einschneidende demografische Veränderungen im 18./19. Jahrhundert zur Folge, andererseits aber auch eine Schwächung der Wirtschaft sowie der absolutistischen Herrscher.

Aus der Ab- und Auswanderung resultierte letztlich ein immenser demografischer Aderlass.

 

Herzogliches Edikt von 1784

Bekanntmachung [5] von Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg (1735-1806):

 

SERENISSIMI

EDICT

gegen das

Auswandern der Unterthanen in fremde Lande, und insonderheit nach

Amerika

29. d. Braunschweig, den 29. März 1784

Von Gottes Gnaden, Wir

Carl Wilhelm Ferdinand,

Herzog zu Braunschweig - Lüneburg x. x.

fügen hiermit zu wissen: wasgestalt Wir zu Unserm nicht geringen Mißfallen vernommen, daß, ob schon durch das unterm 14. Jun. 1770 publicirete Kayserl. EDICT das Auswandern deutscher Unterthanen in fremde, mit dem deutschen Reiche in keiner Verbindung stehende Länder hart verboten worden, dennoch verschiedene hiesige Unterthanen den Entschluß gefaßt haben sollen, sich von hier weg und nach Amerika zu begeben.

Wenn nun aber solches nicht nur obgedachtem Kayserl. EDICTE, sondern auch der hiesigen Landesverfassung, nach welcher sich niemand heimlich außer Landes begeben soll, gerade entgegen ist, auch fast mit Zuverläßigkeit vorausgesehen werden kann, daß dergleichen Leute, welche zu ihrem sichern Verderben nur zu leichtgläubig den falschen Vorspiegelungen einiger Verführer trauen, und auf ein blindes Glück, ohne einmal genau den Ort ihres künftigen Aufenthalts, und wie es ihnen dort ergehen werde, zu wissen, ihr Vaterland und Vermögen verlassen, bald, wenn sie sich betrogen gefunden, und das Ihrige zugesetzt, zu ihrem Schaden zurückkehren, und wohl gar alsdann die Zahl der Bettler vermehren werden; so wird ein jeder Unterthan zu seinem eigenen Besten hierdurch nochmals gewarnet, dergleichen Verführern, worunter hin und wieder wohl gar verkappte Werber zu auswärtigen Kriegsdiensten sich befinden mögen, kein Gehör zu geben, immaßen widrigenfalls nach Inhalt des vorangezogenen Kayserl. EDICTS, gegen selbige verfahren, und sie im Betretungsfall sogleich gefänglich eingezogen, und ihres Frevels halber mit nachdrücklicher Strafe beleget werden sollen.

Sämmtliche Obrigkeiten im Lande aber werden zugleich hiedurch ernstlich angewiesen, nicht nur hinkünftig auf solche Personen, welche sich des Vorhabens einer Auswanderung verdächtig machen, genau zu invigiliren, und bey hinlänglichem Verdacht selbige zu arretiren, sondern auch davon sofort an Uns zu berichten.

Insbesondere aber ist bey solchen Untersuchungen auf die etwaigen Verführer scharf zu inquiriren, und überhaupt, es betreffe nun die Auswandernde, oder deren Verführer, dem Kayserl. EDICT hierunter gemäß zu verfahren.

Wie denn die Obrigkeiten sich vorzüglich wohl vorzusehen haben, daß sie denenjenigen, auf welche ein Verdacht der Auswanderung fällt, keine Pässe ertheilen, auch den Verkauf ihrer beweg- und unbeweglichen Güter ihnen nicht gestatten, oder dergleichen, oder einen sonstigen Contract über ein Anlehn nicht confirmiren, noch ihnen, was sie etwa an Mitgift zu fordern haben, verabfolgen lassen.

Sollte aber demohnerachtet jemand der genauen Aufsicht der Obrigkeit hierunter zu entgehen wissen, und nach Amerika, oder sonst in fremde, mit dem Reiche in keine Verbindung stehende Lande auswandern; so soll derselbe seiner Mitgift, oder Erbtheils, auch sonstigen etwa noch zurückgelassenen, oder ihm künftig anfallenden Vermögens, eo ipso verlustig, und alles dieses dem Fisco anheim gefallen seyn.

Als wornach denn in vorkommenden Fällen Unsere höhere Justiz Collegia, so wie sämmtliche Obrigkeiten im Lande sich also zu achten haben. Wie denn auch, damit niemand sich mit der Unwissenheit entschuldigen möge, dieses Unsere offene EDICT zu dreyen wiederholtenmale von den Kanzeln verlesen, auch durch den Druck publiciret, und gewöhnlichen Orten, wie hiemit befohlen wird, öffentlich angeschlagen werden soll. Urkundlich Unsrer eigenhändigen Unterschrift, und beygedruckten Fürstl. Geheimen-Canzley-Siegels. Gegeben in Unsrer Stadt Braunschweig, den 29. März, 1784.

Carl Wilhelm Ferdinand,

Herz. zu Br. Lüneb.     L. S.     A. E. G. v. Münchhausen

 

Aus dem benachbarten Königreich bzw. der preußischen Provinz Hannover wanderten aus ökonomischen Gründen während drei Hauptphasen zwischen 1832-1886 offiziell über 183.000 Einwohner nach Übersee aus.

Zwischen 1824-1864 kam es im Königreich Hannover zu einem Wanderungsverlust von etwa 230.000 Bewohnern.[6]

Zusätzlich zur Auswanderung entwickelte sich zudem durch zahlreiche Abwanderungen in das Umland und in nord- und westdeutsche Industriestädte eine hohe Binnenwanderung.

Erst um die 1870er Jahre ging der Auswanderungsstrom aus Niedersachsen allmählich zurück.

 

Auf nach Amerika!

Das „America-Fieber“

Die meisten Männer und Frauen (mit Kindern) wanderten in die Hoffnung bietende USA ein („Amerikaauswanderer“).

Diesbezügliche wirtschaftliche und politische Hoffnungen sowie günstige Existenzperspektiven wurden zudem auch teilweise administrativ gezielt gefördert.

In den USA vollzog sich unter Missachtung der Rechte und zugesicherter territorialer Sicherheiten von Indianer-Stämmen eine rasche Westexpansion.

Iren und Deutsche stellten zwischen 1851-1860 fast 2/3 Drittel der US-Einwanderer.

Bis zum Ende 1890er Jahre kamen die meisten Einwanderer aus Deutschland.

Etwa 95 % der niedersächsischen Auswanderer emigrierten nach Nordamerika, andere auch nach Mittel- und Südamerika, Australien, Afrika oder Indien.

Bis zu 300.000 Menschen sollen allein aus Niedersachsen ausgewandert sein.

„Besonders im mittleren Westen, im Gebiet von Illinois bis hinunter nach Texas, lassen sich in den USA viele Orte nachweisen, die sich auf Einwanderung aus Niedersachsen beziehen.

Die dort verbreiteten Familiennamen verweisen noch heute auf die Herkunftsgebiete“.[7]

Der Höhepunkt der hannoverschen Auswanderung lag in den 1860er Jahren („Amerikafieber“). Auch diese Auswanderungen sind ein weiterer Hinweis darauf, dass in Niedersachsen, wie allgemein in Deutschland, die Erwerbsmöglichkeiten um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr ungünstig waren.

Der vielfach beschriebene sozio-ökonomische Niedergang und die Diskrepanz zwischen „gewerblicher Entwicklung“ und dem Bevölkerungswachstum in der Sollingregion führten dann letztlich auch zu Migrationsbestrebungen, insbesondere zur Auswanderung nach Amerika, in die „Neue Welt“.

Dort erhoffte sich die Auswandernden ein besseres Leben ohne existenzielle Not.[8]

Überseeische Massenauswanderungen über die Auswanderungshäfen Hamburg und Bremen vollzogen sich dann seit den 1830er Jahren (1832-1864) und hatten - auf dem Boden deutscher Außenhandelsverträge und Handelsbeziehungen gesteuert - zumeist Nordamerika (nordamerikanische Freistaaten, USA) zum „gewählten“ Migrationsziel.

Die nordamerikanischen klimatischen Verhältnisse entsprachen weitgehend denen Deutschlands.

Bremen wurde, nach Le Havre, Rotterdam und Antwerpen, zum bedeutendsten Auswanderungshafen für deutsche Emigranten, da nur von Bremen aus eine Direktverbindung in die USA bestand.

Aber auch vom großen Hafen in Hamburg gab es Abfahrten nach Übersee.[9]

Auf die Beförderung von Auswanderern spezialisiert, wurde das Auswanderergeschäft zu einer lukrativen Einkunft für Bremer Schifffahrtslinien.

Nach 1827 wurde auch im Zusammenhang mit der Massenauswanderung die Stadt Bremerhaven bei Geestemünde gegründet.

Eine Schiffspassage nach Nordamerika mit einem Großsegler dauerte um 1854 etwa 6-10 Wochen, abhängig vom Schiffstypus und der Wetterlage.[10]

Bisher gilt es noch als unerforscht, an Bord welcher Schiffe, in welchen Passagierlisten hinterlegen, Auswanderer mit welchen Gepäckstücken aus dem Gebiet zwischen nördlichem Solling und Holzberg nach Übersee gefahren ist.

Einige der vielen Passagen endeten auch für „Amerikafahrer“ aus der Sollingregion im Fiasko, Untergang und Tod - noch bevor die nordamerikanische Küstenlinie erreicht worden war.

 

Auswanderungsmotive, amtlicher „Consens“

- und die Interessen des Herzogtums Braunschweig

Die Beweggründe zur Auswanderung waren im Einzelfall komplex und sehr verschieden.

Als Hauptmotive können überwiegend wirtschaftliche bzw. sozio-ökonomische Problemlagen sowie auch politische oder religiöse Unterdrückung angenommen werden.

Die Emigranten erhofften sich in der Regel, in Übersee, vor allem aber in Nordamerika, ein besseres wirtschaftliches Fortkommen zu finden als in der niedersächsischen Heimat, was letztlich so manchem auch gelang.

Zwischen dem Auswanderungsentschluss und der Ausreise war die behördliche Zustimmung des zuständigen Amtes einzuholen („Auswanderungskonsens“).

Zwar war es grundsätzlich erlaubt, das Herzogtum Braunschweig für immer zu verlassen, jedoch bedurfte dies der Genehmigung der zuständigen Behörde (Amt).

Dies führte zur Erstellung zahlreicher „Auswanderer-Akten“.

Manche wanderten auch heimlich und ohne schriftliche Registrierung aus.

Einer Begründung zum Auswanderungsantrag ist zu entnehmen [19]:

"Wegen Überfüllung der Menschen-Zahl in hiesiger Gegend, und weil wir für unsere Familien den nothdürftigen Unterhalt nicht gut mehr erwerben können, haben wir den festen Entschluß gefasst, gleich nach Ostern nach America zu gehen.

Deshalb haben wir unsere sämtlichen Habseligkeiten zu Gelde gemacht."

Nach POHLMANN [22] begannen die ersten Migrationsschübe in der ständisch-hierarchischen Agrargesellschaft des Landes Braunschweig etwa ab 1720, vermehrt jedoch zur Mitte des 18. Jahrhunderts, wobei der Umfang von Auswanderungen aus dem Herzogtum Braunschweig zunächst noch relativ niedrig war.

Das letzte Verbot der Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig datiert aus dem Jahr 1784.

Dem hingegen bestand während des folgenden 19. Jahrhunderts Auswanderungsfreiheit, wobei diese ab 1832 auch gesetzlich geregelt war.

Es war zunächst allen auswanderungswilligen Männern grundsätzlich erlaubt, das Herzogtum dann rechtmäßig verlassen zu können, wenn der amtliche Consens, die behördliche Genehmigung, vorlag.

Hierfür hatten die Auswanderungswilligen pflichtgemäß zuvor einen „Pass“ bei der zuständigen Behörde zu beantragen.

Da Frauen wie Kinder nicht der Militärpflicht unterlagen und daher „für den Staat keinen speziellen Nutzen“ hatten, konnten sie unproblematisch, d.h. ohne vorherige behördliche Zustimmung, auswandern.

Nahm zunächst das Herzogtum Braunschweig zwar eine liberale Haltung zur Auswanderung ein („Neue Landschaftsordnung“ von 1832), so wurde jedoch in den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg (nach 1763) die zuvor landesherrlich gewährte Auswanderungsfreiheit schrittweise administrativ eingeschränkt, weshalb auch zahlreiche Untertanen heimlich das Land verließen.

Insbesondere in den der Weser nahen Gebieten des Braunschweiger Weserdistriktes gab es eine sehr hohe Anzahl passloser, illegaler Auswanderer.

Sie nutzten bei „Nacht und Nebel“ den direkt nach Bremen führenden Strom als Pfad, um nicht auf dem Landweg von Grenzposten angehalten zu werden.

Somit wird berechtigt angenommen, dass aus dem Herzogtum Braunschweig etwa doppelt so viele Personen emigrierten, als dies den offiziellen statisitischen Nachweisen bislang zu entnehmen ist.[1]

Die staatliche Auswanderungspolitik im Herzogtum Braunschweig war vornehmlich von finanziellen wie ökonomischen Interessen bestimmt, aber auch von humanitären.

1897 wurde das Reichsauswanderungsgesetz erlassen.

Auch sozialmedizinisch interessant ist die Beobachtung, dass die Einwanderung in überseeische Staaten u.a. auch zu genetischen und damit erblichen Veränderungen in den mehr oder minder ursprünglichen menschlichen Populationen der Zielstaaten führte.[20]

 

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[1] Umfangreiche Aktenbestände (einschl. Landkreis Holzminden bis 1941) und andere archivalische Quellen zur Auswanderungsbewegung bestehen im Nds. Landesarchiv - Staatsarchiv Wolfenbüttel (Findbuch 39 Slg.).

[2] POHLMANN 2002; JARCK/NIEWÖHNER 2000; HENNING 1989.

[3] TACKE 1943, S. 28.

[4] JARCK/NIEWÖHNER 2000.

[5] in Übertragung aus BUSCH 1993, S. 56 f.

[6] SPIEKER/SCHÄFER 2000, S. 209.

[7] HAUPTMEYER 2004, S. 105.

[8] Aus- und Einwanderungsbilanz im braunschweigischen Weserbergland in den Jahren 1853-1872 bei TACKE 1943, S. 81, Tab. 20.

[9] Staatsarchiv Hamburg.

[10] SOLLJER 2004, S. 252.

[19] zit. in SPIEKER/SCHÄFER 2000, S. 209.

[20] Bemerkenswert ist ein medizinischer „Nebenaspekt“ der Aus- bzw. Einwanderung (Deutsches Ärzteblatt Online, 11.02.2004): Offenbar wurde durch deutsche Einwandererfamilien auch eine erst jüngst entdeckte Genmutation (Gendefekt) in die USA eingeschleppt, welche, wie genetische und genealogische Untersuchungen zeigten, vermutlich Anfang des 18. Jahrhunderts (1727) von Deutschland aus durch Genträger in die USA (Pennsylvania) gelangte. Dabei handelt es sich um familiär gehäufte Tumoren des Dickdarmes (Colon) und um eine Reihe von Tumoren außerhalb des Dickdarmes (autosomal-dominant erbliche Krebsdisposition).

[22] POHLMANN 2002. [23] Sonderausstellung vom 06. April - 14. Dezember 2014 im Museum im Wettbergschen Adelshof in Bad Münder.