Vertellesche und Döneken

Klaus A.E. Weber

 

Nach KIRCHHOFF [5] sind die methodischen Textgattungen Sagen und Mythen in Abgrenzung zu Märchen gewichtiger und lokal begrenzt, haben einen historischen Fakten- und Realitätsgehalt, allerdings ggf. auch fiktive Inhalte - und vermitteln "mit ihrem Inhalt eine normative Botschaft".

Dabei verfügt die Sollingregion über einen "reichhaltigen Erzählungsschatz", so auch das Hellental.

 

Leben und Arbeit im Licht und Schatten des Sollingtals

Obgleich nur ein Bruchteil der Texte aufgeschrieben wurde, gibt es über Hellental, den abgeschiedenen, einsamen Waldwinkel im Solling, Erzählungen über rätselhafte und ungeklärte dörfliche Geschehnisse und Phänomene, über Zeugnisse der Volksfrömmigkeit und des Aberglaubens von vorgestern.

Das direkte Erleben der nicht immer „gnädigen” Natur machte viele Dorfbewohner anhaltend psychisch sensibel für nicht rational begründbare Beobachtungen und Ereignisse.

Noch heute ist bei älteren „Helldahlschen“ ein tradiertes, innerlich tief veranlagtes Verhalten anzutreffen, zurückliegende individuelle Ereignisse im und um das Dorf als mystische Vorhersagungen oder als übernatürliche Vorgänge anzusehen oder zu deuten.

Über die sozialen Interaktionen, das wechselseitige, aufeinander bezogene und aneinander orientierte Verhalten zwischen Familien, ihren Mitgliedern und Einzelpersonen eines Dorfes sowie gegenüber Fremden ist heute kaum etwas bekannt, ebenso wenig zur Art und zum Umfang der dörflichen sozialen Kommunikation in den Zeiträumen des 18./19. Jahrhunderts.

Der allgemeine Bildungsstand der „kleinen Leute“ in den Dörfern jener Epoche ist, wie auch in anderen vergleichbaren ländlichen Regionen, als eher niedrig einzustufen.

Wie reagierten damals Dorfbewohner unterschiedlicher regionaler Herkunft und sozialer wie kultureller Prägung, unterschiedlicher beruflicher Qualifikation und Erfahrung sowie mit unterschiedlichem Besitzstand wechselseitig aufeinander?

Wie beeinflussten und steuerten sie sich gegenseitig in den drei Dörfern?

Wie erfolgte der Umgang mit Sachinformationen, aber auch mit Gefühlen, Empfindungen, Bedürfnissen und Wünschen?

Wie wurden unterschiedliche Beziehungen innerhalb wie außerhalb des Dorfes hergestellt und aufrechterhalten?

Wie waren das dörfliche Zusammenleben und die Beziehung untereinander geregelt und geordnet?

Zu allen diesen Fragen können keine hinreichend verlässlichen Aussagen getroffen werden, so dass hierzu sozialwissenschaftlicher Untersuchungsbedarf zu signalisieren ist.

Hilfsweise kann auf Erzählungen, Geschichten und Gedichte über das Dorf Hellental zurückgegriffen werden.

Die meisten bekannt gewordenen Erzählungen, Geschichten und Gedichte über das Sollingtal und Arbeiterbergdorf Hellental haben durchaus auch sozialhistorische Bezüge, wohl wissend, dass die vorwiegend mündlichen Volksüberlieferungen nicht immer die tatsächlichen historischen Gegebenheiten widerspiegeln.

Die Darstellung dessen, was noch heute gelegentlich bei geselligen Anlässen lebhaft als "Vertellesche", Anekdoten und Döneken, erzählt wird, wie auch bereits Aufgeschriebenes und Veröffentlichtes, soll hier kurz vorgestellt werden, auch wenn es sich um anrüchige Begebenheiten handeln sollte.

Mit dem Solling und seinen im Charakter unverwechselbar „typischen” Bewohner*innen beschäftigen sich insbesondere die regional-historischen Abhandlungen und Erzählungen von Heinrich Sohnrey (1859-1948) und Otto Stille (1886-1965).[1]

Auch ist auf den 1922 in Berlin erstmals veröffentlichten Memoirenband „Engelchristine – Mägdealltag und Mädchenträume“ von Hanshenderk Solljer sowie auf den Folgeband „Eign Herd und eigen Stert …“ hinzuweisen.

Beide Werke vermitteln regional- wie sozialgeschichtliche Einblicke in das alltägliche Landleben „kleiner Leute“ im Solling, erzählt von Friederike von Ohlen (1838–1923), genannt „Engelchristine“.

 

[2]

 

Über Hellental, den abgeschiedenen, einsamen Waldwinkel im Solling, gibt es Berichte über rätselhafte und ungeklärte dörfliche Geschehnisse und Phänomene, über Zeugnisse der Volksfrömmigkeit und des Aberglaubens von vorgestern.

Das direkte Erleben der nicht immer günstig gestimmten Natur machte viele Dorfbewohner anhaltend psychisch sensibel für nicht rational begründbare Beobachtungen und Ereignisse.

Noch heute ist bei den wenigen älteren Hellentalern ein tradiertes, innerlich tief veranlagtes Verhalten anzutreffen, zurückliegende individuelle Ereignisse im und um das Dorf als mystische Vorhersagungen oder als übernatürliche Vorgänge anzusehen oder zu deuten.

Wie der 1942 verstorbene Hellentaler Lehrer Paul Timmermann [3] zur noch heute bei einigen älteren Dorfbewohner*innen anzutreffenden Grundstimmung kennzeichnend ausführte, würden im Leben oft Zufälle oder Geschehnisse auftreten, die häufig von innerlich tief veranlagten Menschen als Vorhersagungen angesprochen oder als übernatürliche Vorgänge angesehen würden.

Dass es sich hierbei meistens um natürliche Zufälle handele, sei diesen Menschen oft nicht klar.

Der Hellentaler Willi Leßmann berichtete im Jahr 1984, dass es um die Wende des 19./20. Jahrhunderts in Hellental eine Musikkapelle gab, die von dem Schlachtermeister Heinrich Köke geleitet wurde.

Die alten Einwohner der näheren, aber auch weiteren Umgebung würden noch heute von ihren Vereinsbällen schwärmen, auf denen die Hellentaler zum Tanz aufspielten.

Vor allem blieben die alten, herrlichen „Bismarckschen Tänze“ in bester Erinnerung, offenbar ein Steckenpferd der Musikkapelle.

Da auch Leßmanns Schwiegervater Otto Mengler (1894-1964) mit zu der alten Kapelle gehörte, kann man sich denken, was alles so als plattdeutsche „Helldölsche Vertellesche“ zutage kam.

 

Helldale ümme dei Jahrhundertwenne

De Wächter tute in sein Horn

un leddig sind de Straaten

Blaut min’n im Dörp de graate Born

kann nich sein Flüstern laaten.

 

De Glock slaat tein „Frie wärt up Eer’n”

de Wind wärt sachte laise

am Himmel scheint de helle Steern

in seiner stillen Waise.

 

De Maand treckt langsam seine Bahn

dat Holt staht swart un bieder.

De Slaap gaht niun von Mann tea Mann

un schlütt de Augenlider.

 

Dai Seel’ vergettet Müh un Plaag

dat Harte daat sek eopen.

Dat morgen kümmt en naier Da

dat wüllt weu alle hopen!

 

Willi Leßmann

 

Dass man in alten Zeiten im Umgang mit plattdeutschen Worten und Formulierungen auch in Hellental nicht gerade wählerisch oder zimperlich war, braucht wohl nicht erst betont zu werden.

Für empfindsame Leser*innen gelten deshalb manche der folgenden Begebenheiten als „nicht geschrieben“.

 

"Rote Äpfel" [4]

Ein ungeliebter Nachbar sagt zu Ernst Strohmeier:

Du hast so schöne rote Äpfel mit.

Kannst mir auch mal einen mitbringen.

Ernst hatte aber keinen mehr, so nahm er einen anderen Apfel und spritzte Essig hinein.

Der Apfel wurde daraufhin schön rot.

Der Nachbar biss mit Freude hinein – und zur Freude von Ernst spuckte er ihn im hohen Bogen wieder aus.

 

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[1] „Dä dicke Anton aut’n Sollje - Schicksal, Streiche un Galöppe“ - erschien in 1. Auflage 1936, geschrieben von dem in Schorborn geborenen Otto Stille; 1969 wurde von der Stadt Stadtoldendorf die 2. Auflage herausgegeben; Stille’sche Nachlasswerk „Dä Dörpspaigel – Der Dorfspiegel“, wurde erst 1990 veröffentlicht. Heinrich Sohnrey verfasste 1928 das bekannte Solling-Werk „Tchiff, tchaff, toho!”.

[2] LESSMANN 1984, S. 104.

[3] Zur politischen "Bewertung" des Parteibuchbeamten aus Hellental als "Nazimann" wird verwiesen auf den Aufsatz von SEELIGER 2010, S. 85-87.

[4] Erzählt von Ernst Strohmeier, aufgeschrieben von Jutta Graßhoff │ Hellental, Februar 2007.

[5] KIRCHHOFF 2020, S. 90-91.