Die weiße Jungfer von der Teichklippe
Klaus A.E. Weber
Die folgende, geradezu gespenstige Sage aus dem Mittelalter ist einer Nacherzählung von KOLLMANN [1] zu entnehmen:
Man sagt, in alter Zeit habe auf dem Heukenberg eine Burg gestanden. Ihre Mauern und Türme sollen nicht schwächer gewesen sein als die der gegenüberliegenden Burg Hunnesrück.
Zwischen beiden befand sich damals ein Sumpfgebiet, in dessen Mitte sich ein weiter, tiefer Teich erstreckte.
Auf dem Heukenberg, so heißt es, hauste ein Ritter mit seiner Familie.
Er hatte durch Krieg und Fehden Geld und Besitz verloren, und da es ihm nicht standeswürdig zu sein schien, vielleicht auch auch zu mühsam war, mit ehrlicher Arbeit für sich und seine Angehörigen das tägliche Brot zu verdienen, entschied er sich lieber für das unedle Handwerk des Raubens und der Wegelagerei.
Der zu jener Zeit gängige Spruch:
„Reiten und Rauben ist keine Schande. – Das tun die Besten im Lande.“
Half ihm, gelegentliche Bedenken zu überwinden.
Am liebsten überfiel er, gemeinsam mit seinen Knechten, Kaufmannszüge auf der alten Einbecker Straße, die in der Nähe vorbeiführte, plünderte die Wagen, spannte die Pferde aus und nahm alles Wertvolle mit sich auf seine Burg.
Natürlich kam es bisweilen vor, dass er auf Widerstand stieß, denn die Kaufleute nahmen als Schutz häufig bewaffnete Ritter mit sich.
Aber der kriegserfahrene Ritter und sine Kumpanen blieben meist Sieger, wobei ihre Grausamkeit keine Grenzen kannte.
Als es einmal ein Priester wagte, dem Räuber seinen Lebenwandel vorzuhalten, schlug er ihm im Jähzorn kurzerhand den Kopf ab.
Das ging auf diese Weise eine Zeitlang hin, bis der Heukenburger so alt geworden war, dass er mit dem Räuberleben Schluß machen mußte.
Da zog Armut ein in seine Burg.
Nun war den Rittersleuten in der Zwischenzeit eine sehr hübsche Tochter herangewachsen, die von den adligen Söhnen auf den umliegenden Burgen heftig umworben wurde.
Sie brachten ihr reiche Geschenke und baten sie, ihre Frau zu werden.
Die Gaben nahm sie dann gern, dachte dabei aber keineswegs an eine Heirat.
So schön die Ritterstochter war, war sie doch kalt und grausam wie ihr Vater.
Wenn es ihr nicht gelingen wollte, einen hartnäckigen Bewerber auf gütlichem Wege wieder lozuwerden, lud sie den jungen Ritterlistig ein, mit ihr auf dem Teich im Tal eine Bootsfahrt zu machen.
Von dem Gewässer wusste sie, dass es unergründlich tief war.
Denn als Knechte einmal versucht hatten, seine Tiefe zu messen, hatte der längste Baum nicht gereicht, bis auf den Grund zu kommen.
Bis an diese tiefste Stelle ließ sie sich rudern.
Dann gab sie dem Rittersohn unversehens einen kräftigen Stoß, dass er über den Rand des Kahns fiel und ertrank.
Mit der Zeit hatte es sich herumgesprochen, daß manch einer, der um die hand der Tochter des Heukenburgers angehalten hatte, nicht zurückgekehrt war.
Doch wusste niemand, wohin er verschwand.
So kam sie bald in dne Ruf, eine Hexe zu sein, und niemand wagte sich mehr in ihre Nähe.
Auf der Burg aber lebte man zunächst noch herrlich und in Freuden von den mitgebrachten Geschenken der Ertrunkenen.
Doch mit der Zeit gerät vieles in Vergessenheit, und es geschah, daß ein junger Ritter von der anderen Seite des Sollings von der schönen Ritterstochter hörte und beschloß, sie für sich zu gewinnen.
So brach er, herausgeputzt mit schmucker Kleidung, zu ihr auf.
Als er in Begleitung eines stattlichen Gefolges und mit Wagen voller Geschenke auf der Heukenburg ankam, wurde er dort sehr herzlich empfangen, denn die Vorräte drohten hier zu Ende zu gehen.
Doch nun konnten wieder Feste gefeiert werden.
Ja, jetzt wurde sogar die Hochzeit für das nächste Jahr vereinbart.
In der Zwischenzeit wurden weitere Wagenladungen mit köstlichen Dingen vom Bräutigam geschickt.
Als die habgierige Tochter des Ritters dies alles sah, erwachte in ihr die frühere Mordlust, denn sie hoffte nun, auch in Zukunft von weiteren Freiern Geschenke zu erhalten.
So geschah es am letzten Tag vor der Hochzeit, dass sie, angetan mit einem weißen Brautkleid, sich von ihrem Verlobten auf den Teich rudern ließ und sie ihn an dessen tiefster Stelle über Bord stieß.
Der junge Ritter kämpfte lange gegen das Versinken.
Aber als er merkte, dass ihn die Kräfte verließen, stieß er mit letzter Anstrengung hervor:
„Niemals sollst du teufliches Weib an die Stätte deiner Geburt zurückkehren!“
Danach versank er in der Flut.
Kaum war dieser Fluch verhallt, sah das Ritterfräulein voll Entsetzen, wie unter Donner und Krachen die Burg des Vaters im Erdboden verschwand.
Dann wälzten sich von den Bergen her riesige Erdmassen in den Teich, aus dem Dampfwolken emporstiegen.
Aus ihnen ertönte schaurig eine Geisterstimme:
„Von nun an bist du durch mich gebannt!
Zur Strafe für deine Untaten wirst du deinen Opfern im Teich ihre Qualen erleichtern und in jeder Nacht das Wasser von den Häuptern der Ertrunkenen schöpfen.
Danach musst du dies Wasser hoch auf den Kamm des Berges tragen und auf der anderen Seite heruntergießen!
Doch kann dich einst ein reiner Jüngling von diesem Fluch erlösen, wenn er für dich das Wasser auf den Berg trägt, ohne sich dabei umzusehen.“
Danach wurde alles plötzlich unheimlich still.
Das Ritterfräulein stand da im weißen Hochzeitskleid, und vor ihm lagen im Gras zwei goldene Eimer.
Es war viele Jahre danach, als spät in der Nacht ein fröhlicher, junger Bursche über den Berg gewandert kam, der sich am Teichbrunnen mit einem kühlen Trunk erfrischen wollte.
Da hörte er es plötzlich gespenstisch rauschen, und eine ganz in Weiß gekleidete Frau stand mit goldenen Eimern in den Händen vor ihm.
Zunächst packte ihn Angst, dass er schon fortlaufen wollte, als sich die junge Frau mit Tränen in den Augen an ihn wandte und ihn inständig bat, sie von ihrem schweren Schicksal zu erlösen.
Zum Lohn dafür wolle sie seine Frau werden.
Er brauche nur die beiden mit Wasser gefüllten Eimer auf den Berg hinaufzutragen.
Dabei dürfe er sich jedoch niemals umsehen.
Dem jungen Mann schien die Aufgabe nicht schwer zu sein, so daß er ohne Bedenken zusagte.
Er ergriff die Eimer und stieg den Berg hinauf.
Aber als er schon fast oben angekommen war und er dachte, alles sei beendet und er habe seine Aufgabe geschafft, drehte er sich um, um zu sehen, ob die hübsche, junge Frau ihm gefolgt sei.
Da verlor er im selben Augenblick das Gleichgewicht, und die schweren Eimer zogen ihn über den Rand der Klippe in die Tiefe.
Am nächsten Tage fand der Müller der Weißen Mühle den zerschmetterten Körper des jungen Wanderers.
Er hob ihn auf und trug ihn in sein Haus.
Dort sagte er zu seiner Frau, die voll Trauer auf den Toten herabsah:
„Den het de Witte Jungfer ok noch ehalt.“
Die Weiße Jungfer ist angeblich später noch einmal von zwei Frauen gesehen worden, wie sie ihre Eimer über die Wiesen am Ohleberg auf den Bergkamm trug; aber erlöst hat sie bis heute noch niemand.
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[1] KOLLMANN o. J., S. 128f.
nach Winkel, Denkiehausen - in: Kollmann-Gümmer, Kollmann: Sagen und Geschichten aus dem Landkreis Holzminden