Missernten und Hungerkrisen

Klaus A.E. Weber

 

© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Die Kartoffel

Tägliche Speise des Bürgers und Ackermanns

Die landwirtschaftliche Produktion wurde vormals maßgeblich von zyklischen Agrarkonjunkturen und -krisen geprägt und damit auch die Gesamtwirtschaft.[1]

So war auch das bäuerlich-dörfliche Leben und Arbeiten in der hier dargestellten Kleinregion zwischen nördlichem „Sölling“ und dem „Holtzberg“ ganz wesentlich vom Verlauf der Agrarkonjunktur abhängig.

Bereits während des Spätmittelalters war es zu schweren landwirtschaftlichen Krisen und anhaltenden Agrardepressionen gekommen - mit der Folge heftiger Hungerjahre.

Klima- und Witterungsschwankungen beeinflussten darüber hinaus die Subsistenz der bäuerlichen Dorfbevölkerung.

Schwerwiegende Missernten ereigneten sich hintereinander in den Jahren 1771-1773.

Nach den Hungerjahren 1771/1772 entwickelte sich eine „vehemente Agrarkonjunktur“.[2]

Die erste der drei Missernten lies die Agrarpreise erneut ansteigen.

Nach HAUPTMEYER [4] starben während der Hungerkrisen jener Jahre in den Dörfern weitaus mehr Menschen als geboren wurden, möglicherweise auch in den hier dargestellten Dörfern.

Die Bevölkerungskurve von Heinade und Merxhausen weist während dieses Zeitraumes zumindest eine kleine Senke bei einer ansonsten rasch zunehmenden Bevölkerungsentwicklung auf.

Ernährten sich seit dem Mittelalter die Menschen zunächst noch vorrangig von Getreideprodukten, vor allem durch Brot aus billigem Roggen, so wurde später - um die Mitte des 18. Jahrhunderts - die Kartoffel in der Sollingregion heimisch und entwickelte sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zum regional wichtigsten Nahrungsmittel.

 

Die Kartoffel als "vorzügliches Nahrungsmittel"

In der Renaissance wurde die Kartoffel zur besonders wertvollen Pflanze für die Ernährung der Menschen jener Epoche.

Auch hatte der Garten während der Renaissance eine erhebliche Bedeutung erlangt, in dem in ihm u.a. auch Gemüse und Kräuter angebaut wurden.

Die von den Inkas „papas“ genannte Kartoffel (Solanum tuberosum), ursprünglich in den südamerikanischen Anden beheimatet, gelangte erst zur Mitte des 16. Jahrhunderts über Spanien (1565) und England nach Europa.

Um 1750 war es unter Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel und unter der Leitung seines Hofjägermeisters Johann Georg v. Langen zum ersten Anbauversuch der Kartoffel im Harz gekommen.

Bereits 1621 war in Deutschland die erste Kartoffel angepflanzt worden, um deren Verbreitung sich Friedrich II. von Preußen verdient gemacht hat.

Er hatte die der Kartoffelpflanze immanente politische Bedeutung erkannt und betrieb in seinem Königreich ein kluges „Kartoffelmarketing“.

Denn die Ernährung der Bevölkerung war zunehmend schwieriger geworden in einer Zeit, in der sie stetig anwuchs und Getreidemissernten mehrmals zu heftigen Hungerkrisen geführt hatten.

Wegen des Anbaus, der Zubereitung und des Geschmackes gab es gegenüber den „Erdäpfeln“ als Gartenfrucht zunächst recht große Widerstände seitens einer skeptischen Bauernschaft und der Gesamtbevölkerung.

Die Kartoffel wurde wegen ihres hohen Gehaltes an Stärkemehl schließlich doch noch die wichtigste Nutzpflanze, auch in der hiesigen Region.

Der Kartoffelanbau bedeutete eine höhere Lebensmittelqualität und die Kartoffel entwickelte sich bis heute anhaltend zum „Volksnahrungsmittel“.

So konnte das „Holzmindener Wochenblatt“ 1787 denn auch berichten, dass inzwischen die Kartoffel "hier nun mit Erfolg feldmäßig angebaut und diese Frucht schon die tägliche Speise des Bürgers und Ackermanns" geworden sei.[5]

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Kartoffel im Weserbergland bekannt.

Die staatliche Einführung des Kartoffelanbaus geht auf Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel zurück, im Zusammenwirken mit seinem Oberjägermeister Johann Georg v. Langen.

Der "Tartouflen-Bau" war für die Ernährungssicherung der Bevölkerung im Herzogtum Braunschweig von besonderer und weitreichender Bedeutung.

Herzog Carl I. stellte 1746 fest [1], "daß die Bauersleute den Anbau von Küchengewächsen in den Gärten an vielen Orten, insbesondere denen, so von den Städten entfernt sind, sehr vernachlässigen und zu ihrem eigenen Schaden sich nicht bemühen, Garten- und Vietsbohnen, Braunen Kohl, Salade und dergl. zu bauen".

Um den Korn- und Mehlverbrauch einzusparen, gab Carl I. die herzoglich Anweisung, darüber zu halten, dass die Untertanen den Anbau der Gartenfrüchte "besonders der in einer Landhaushaltung so nützlichen Kartoffel sich allen Fleißes angelegen sein lassen".

Wie überliefert ist, wurden 1764 bei Merxhausen erstmals Kartoffeln, vermutlich in Gärten, angebaut.[2]

Um 1883 waren im Kreis Holzminden die Acker- und Gartenflächen je 1.000 ha bestellt mit 79 ha Kartoffeln bestellt.[3]

 

Kartoffelfäule und schwere Hungerkrisen

Die wiederholten, schweren Hungerkrisen bis zum 18. Jahrhundert werden fast ausnahmslos auf klimatisch bedingte Missernten zurückgeführt.

Im 19. Jahrhundert verschärften sich die Hungersnöte durch die stetig ansteigende Bevölkerungsentwicklung.

In Irland kam es zur großen Hungersnot in den Jahren 1845 und 1849

 

Schwere Subsistenzkrise in der Solingregion

Der regenreiche Sommer von 1816 führte dazu, dass im Bereich des Sollings kaum noch Getreide geerntet werden konnte. Aber auch die Jahre 1828-1830 erbrachten schlechte Ernten, wodurch die Getreidepreise auf Spitzenwerte anstiegen.[6]

In den Jahren 1845-1847 und 1850-1853 traten erneut witterungsbedingte Missernten ein, so dass es wiederum zu schwerwiegenden Hungerjahren kam.

Große Teile der Kartoffelernten wurden seit dem feuchtkalten Sommer von 1845 in weiten Teilen von Mittel- und Westeuropa durch die seuchenhaft auftretende „Herbstfäule“ bzw. „Kartoffelpest“ vernichtet.

Die vielen Missernten, insbesondere aber die Kartoffelfäule von 1846/1847, führten auch im braunschweigischen Weserkreis vielfach zu ausgeprägten Hungersnöten und zu erheblichen finanziellen Problemen.

Die Hungerkrisen führten gerade bei den Tagelöhnern, Handwerkern und Kleinbauern des Sollings zu einer schweren sozialen Ausnahmesituation.

Zahlreiche Menschen erkrankten schwer oder starben sogar, da sie angefaulte Kartoffeln verzehrt haben sollen.[7]

Der durch die Kartoffelfäule verursachte Ernteausfall hatte insofern weitreichende Auswirkungen, da sich die Kartoffelpflanze seit ihrer Einführung durch den Braunschweiger Hofjägermeister v. Langen (ab 1746, im Harz) zu einem vorrangigen Grundnahrungsmittel gerade für die Unterschichtfamilien entwickelt hatte.

Um 1846 kam im Agrarsektor erschwerend noch eine große Dürrephase hinzu, die die Getreideernte drastisch verminderte und die Getreidepreise enorm anwachsen ließ.

Daher brach vielerorts die Brotversorgung zusammen, was wiederum zur Ausweitung der ohnehin bestehenden, heftigen Hungerkrise führte.

Der in der Ortschronik von Wangelnstedt [8] zitierte STEINBERG beschrieb anschaulich die schwere Subsistenzkrise zur Mitte des 19. Jahrhunderts:

"Im Sommer 1847 war nicht viel gewachsen.

Die Kartoffeln waren nicht geraten, und die paar, die geerntet waren, verfaulten den Leuten in den Häusern. Keller gab es im allgemeinen nicht.

Zum Unglück setzte der Winter recht früh und stark ein, so daß die Schiffe, die nach Rußland gefahren waren, um Korn einzukaufen, in den Häfen einfroren und nicht mehr auslaufen konnten.

Der Roggen wurde immer teurer, und so kam der Himpten auf 3 Taler und 10 gute Groschen, was für die damalige Zeit ein sehr hoher Preis war.

Auf der Straße fielen die Menschen vor Hunger in Ohnmacht.

Wie und das sie diese Zeit überstanden haben, ist kaum zu erklären.

Backen konnten damals nur noch wenige, alle mußten Kaufbrot essen.

Das ist ja heute allgemein üblich, aber damals schähmten sich die Menschen des gekauften Bäckerbrotes, und wer es irgend machen konnte, der backte selbst.

„Ist kein Gedeihen im Bäckerbrot“, sagten die Leute.

Es war eine schreckliche Zeit, besonders für die, die viele Kinder hatten.

Die Eltern wußten nicht, womit sie diese sättigen sollten, wenn sie vor Hunger weinten.

Viele Kinder gingen abends hungrig zu Bett und die Eltern erst recht.

Am Tage bettelten sie um „’n Stücke“.

Damit war ein eitel Brot gemeint.

In wohlhabenderen Gegenden hieß das „’n Botter“, womit ein Butterbrot gemeint war.

Damals kannte man noch keine soziale Gesetzgebung und Fürsorge der Regierung, und noch keine Wohlfahrtsverbände, wie heute [Anm.: 1899], und in den wohlhabenderen Gegenden erfuhren die Menschen nicht einmal, dass ihre Mitmenschen anderswo hungern mußten.

Die armen Menschen konnten sterben und verderben."

Die meisten Einwohner*innen der Dörfer, die der unteren ländlichen Sozialschicht angehörten, lebten in äußerst ungünstigen sozialen Verhältnissen und am Rande des Existenzminimums.

Für die Familien des abgelegenen Walddorfes Hellental sollen die Lebensbedingungen besonders miserabel gewesen sein.

Über bettelnde Kinder, die in den Notjahren des „Vormärz“ nicht selten durch Sollingdörfer streunten, wurde berichtet.[6]

Beispielhaft verdeutlichend, erzählen die beiden biografischen Berichte „Mägdealltag und Mädchenträume – Engelchristine: Jugenderinnerungen aus einem Sollingdorf“ und „Eigen Herd und eigen Stert …“ eindrucksvoll, wie „kleine“ Lebensgeschichten kleiner Landleute im Solling in den „großen“ sozialgeschichtlichen Kontext ihrer Zeit eingeordnet werden können.[9]

Die „Landfrau aus dem Solling“, die so genannte Engelchristine (Friederike von Ohlen, geb. Hagedorn) lebte von 1838-1923 im alten, abgelegenen Töpferdorf Fredelsloh, wobei sie nur selten die heimischen Wälder verlassen habe.

Ihre von ihrem jüngsten Sohn wiedergegebenen Lebenserinnerungen vermitteln tiefreichende, lebendige Einblicke in den wenig abwechslungsreichen Alltag kleiner Landleute im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Industrialisierung.

Anschaulich vermittelt werden zudem auch die Auswirkungen der nationalen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung auf das Leben und Arbeiten in der Sollingregion während des ausgehenden 19. Jahrhunderts.[10]

 

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[1] nach dem „Holzmindener Wochenblatt“ von 1787 [zit. in RAULS 1983, S. 127].

[2] TACKE 1943, S. 41.

[3] KNOLL/BODE 1891, S. 116.

[4] HAUPTMEYER 1995.

[5] zit. in ANDERS 2004, S. 250.

[6] SPIEKER/SCHÄFER 2000, S. 207.

[7] SPIEKER/SCHÄFER 2000, S. 208.

[8] ANDERS 2004.

[9] Textgrundlage ist die Originalausgabe: Hanshenderk Solljer (August von Ohlen): Heimekenbrinks Engelchristine. Die Jugenderinnerungen einer alten Bäuerin aus Südhannover. Berlin 1922.

[10] SOLLJER 2000, 2004.